05.03.2011 / Aktion / Seite 16
Granatwerfer in Havanna
Wie ein Pressefoto mit dem entsprechenden Kommentar zur Hetze gegen Kuba genutzt wird
Samuel Wanitsch
Kurz vor der Fußball-WM fällt das Bild einer
Speerwerferin in der Aargauer Zeitung (Schweiz) vom 10. Juni 2010
besonders auf. Die Athletin ist in der Bewegung festgehalten, wie
sie eine »blinde« Granate wirft. Der
Kolumnisten-Kommentar: »Yanet Cruz ist Speerwerferin. Dazu
Kubanerin. Speere gibt’s nicht, trainieren muß sie
trotzdem. Da hatte ihr Trainer die Idee, fürs Training
Stahlkugeln auszugeben. Weil nun aber selbst diese Kugeln
Mangelware sind, übt Yanet Cruz im Panamericana-Stadion von
Havanna mit deaktivierten Handgranaten. In Diktaturen ist Sport
immer auch Bataille. Granaten passen also ins Bild. Olympiagold
dürfte Yanet trotzdem kaum erringen. Nicht wegen des
Übungsgeräts. Aber wegen Kraftlosigkeit. Denn seit Wochen
ist auch Reis Mangelware in Kuba, ein Grundnahrungsmittel. Und
Salz. Wieder mal herrscht die ›Periodo especial‹,
Spezialperiode. Wann kommt der Tag, da jemand richtige Granaten
schmeißt?«
Am Rande der Internationalen Buchmesse im Februar 2011 ergibt sich
für Delegationsteilnehmer des Berliner Büros Buchmesse
Havanna unverhofft die Gelegenheit, sich im dem Messegelände
nahegelegenen »Estadio Panamericano« mit der Athletin
Yanet Cruz zu treffen. Wir zeigen ihr, wie in der Schweiz über
sie und ihr Land geschrieben wird. Die eher zurückhaltende
Yanet reagiert verwundert, und ihr Kommentar fiel entsprechend
lakonisch aus: »El está loco« (Der spinnt),
meint sie. Dann erklärt sie, warum die Granatenattrappe
verwendet wird: Mit ihrer Handlichkeit läßt sich besser
Schnelligkeit trainieren. Und Kraftlosigkeit in Folge mangelnden
Essens? Klar fehle immer mal was – wie wohl andernorts
auch–, aber über ungenügende Ernährung
könne sie sich nicht beklagen. Und übrigens, am
nächsten Tag fände ein Auswahlwettkampf für die
ALBA-Spiele statt. Da könne man sich einen Eindruck von ihr
und dem ganzen Kader im Wettkampfeinsatz verschaffen.
Das lassen wir uns natürlich nicht entgehen. Einen Tag
später staunen wir nicht nur über die vielen jungen
Talente, auch die Atmosphäre beeindruckt uns. Eine einzige
große Sportlerfamilie, in der man sich gegenseitig anfeuert
und so nebenbei noch einen nationalen Rekord im Stabhochsprung der
Damen beklatschen kann. In verschiedenerlei Hinsicht herausragend
sind aber ausgerechnet die Speerwerfenden; nicht zu übersehen
der amtierende Vizeweltmeister Guillermo Martinez, ein
Kraftbündel der Extraklasse. Und dann eben die angeblich so
kraftlose Yanet Cruz, Jugend-WM-Dritte 2005. Die erst
23jährige Kubanerin wirft den Speer – und stellt ihren
persönlichen Rekord von 62,90m ein. Sie wirft damit gute zehn
Meter weiter als die besten und bestens ernährten
Schweizerinnen.
Der Kolumnist der Aargauer Zeitung nennt seinen Beitrag: »Was
für eine Granate!« Und er fragt ungeduldig nach, wann in
Kuba endlich mal jemand richtige Granaten schmeißt.
Am Stand des Berliner Büro Buchmesse in Havanna besuchte uns
eine deutsche Journalistin. Sie fragte ausgerechnet uns, ob wir
glaubten, daß es in Havanna bald losgehen würde wie in
Kairo oder Tunis. Die tatsächlichen Fakten interessieren
nicht, der reaktionäre Wunsch ist Vater des Gedanken. Und wenn
man nichts verdrehen kann, wird auch gerne einfach mal phantasiert.
Zum Glück gibt es aber auch eine Zeitung, in der man aufdecken
kann, wie sie das tun.
Samuel Wanitsch gehört der Vereinigung Schweiz–Cuba
an.
https://www.jungewelt.de/artikel/160278.granatwerfer-in-havanna.html