03.01.2011 / Inland / Seite 5
Chaos mit Ansage
Rückblick 2010. Heute: Die Bahn. Das staatseigene Unternehmen steht vor den Trümmern seiner Pläne für einen Börsengang. Besserung ist nicht in Sicht
Rainer Balcerowiak
Das Jahr 2010 endet für die Deutsche Bahn AG und ihre Kunden
so, wie es begann. Stundenlange Verspätungen und ausgefallene
Züge prägen das »Angebot«. In Teilen des
Regionalverkehrs und bei der Berliner S-Bahn gibt es nur noch einen
Rumpfbetrieb. Das technisch und personell ausgezehrte Unternehmen
ist bei winterlichen Temperaturen und Schneefall offensichtlich
nicht mehr in der Lage, den Betrieb in angemessenem Umfang
aufrechtzuerhalten. Doch auch im Hochsommer mußten
Bahn-Kunden einiges ertragen. In ICE-Zügen fielen reihenweise
die Klimaanlagen aus, etliche Reisende wurden mit
Kreislaufzusammenbrüchen in Krankenhäuser
eingeliefert.
Bei seinem Amtsantritt im Juli 2009 hatte der neue Bahn-Chef
Rüdiger Grube noch vollmundig versprochen: »Wir wollen
den besten Service der Welt bieten«. Doch jetzt steht er
immer noch anscheinend hilflos vor dem Trümmerhaufen, den sein
Vorgänger Hartmut Mehdorn hinterlassen hat. Dieser hatte die
Unternehmensentwicklung – unterstützt von seiner
Hausgewerkschaft Transnet – dem einzigen Ziel untergeordnet,
das bundeseigene Unternehmen an die Börse zu bringen. Der
damit einhergehende Sparkurs beinhaltete nicht nur rigorosen
Personalabbau; vielmehr wurde im gesamten System auf
Verschleiß gefahren. Durch vernachlässigte Wartung
häuften sich Ausfälle, teilweise wurde minderwertiges
Material verwendet, dringend notwendige Investitionen in die
Infrastruktur und in den Fuhrpark unterblieben. Zudem wurde die
Fahrzeugreserve aus Kostengründen fast vollständig
abgeschmolzen, so daß Ausfälle nicht mehr kompensiert
werden können.
Dank der weltweiten Finanzkrise wurde der Börsengang
mittlerweile auf Eis gelegt, und selbst Verkehrsminister Peter
Ramsauer (CSU) räumt einen Zusammenhang zwischen der
Kapitalmarktorientierung und dem maroden Zustand des staatseigenen
Unternehmens ein. Eine Umkehr ist dennoch nicht zu erkennen. Die DB
AG sieht sich weiterhin auf dem Weg zum führenden Global
Player in der Logistikbranche. Fast drei Milliarden Euro ließ
man sich die Übernahme des europaweit agierenden
Verkehrskonzerns Arriva kosten – Geld, welches der DB in
ihrem Kerngeschäft natürlich fehlt. Zu dieser Linie
gehört auch das Festhalten an unsinnigen, aber teuren
Großprojekten wie »Stuttgart 21« oder
vereinzelten »Rennstrecken«. Auf der anderen Seite hat
der Bund sein Unternehmen im Zuge des »Sparpakets« zu
einer jährlichen Zwangsdividende von 500 Millionen Euro
verpflichtet und die Programme zum dringend notwendigen Ausbau der
Schieneninfrastruktur zeitlich gestreckt und zusammengestrichen.
Ohne eine radikale Wende in der Bahnpolitik ist jedenfalls davon
auszugehen, daß sich die Zustände im Schienenverkehr im
kommenden und den folgenden Jahren eher weiter verschlechtern als
verbessern werden.
Verglichen mit den spektakulären Arbeitskämpfen und den
vielen Skandalen in den vorangegangenen Jahren herrschte 2010
innerbetrieblich eine gewisse Ruhe. Die kämpferische
Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) konnte ihre
Position bei den Betriebs- und Aufsichtsratswahlen ausbauen und
strebt weiterhin an, nicht nur wie bisher alle Lokführer,
sondern auch die Zugbegleiter tariflich zu vertreten. Die durch die
Eskapaden ihres Exvorsitzenden Norbert Hansen und den strammen Kurs
Richtung Börse schwer gebeutelte Transnet versucht mittels
einer Fusion mit ihrem Anhängsel GDBA zur Eisenbahn- und
Verkehrsgewerkschaft (EVG) neuen Schwung zu bekommen. EVG und GDL
befinden sich derzeit in einem Tarifkonflikt von herausragender
Bedeutung. Sie fordern neben Gehaltserhöhungen im Bahn-Konzern
auch Branchen- bzw. Spartentarifverträge, um die einheitliche
Bezahlung bei allen Eisenbahnunternehmen durchzusetzen und
Lohndumping bei Ausschreibungen einen Riegel vorzuschieben. Die
privaten Konkurrenten der DB zahlen ihren Mitarbeitern bis zu 30
Prozent weniger, auch die Arbeitsbedingungen differieren erheblich.
Und die Bahn AG agiert längst mit eigenen
Billiglohntöchtern auf dem Markt. Doch auch in dieser
Auseinandersetzung haben die konkurrierenden Gewerkschaften keinen
gemeinsamen Nenner gefunden. Die EVG strebt eine
Branchenlösung für den Schienennahverkehr an,
während die GDL einen Bundesrahmen-Lokführertarifvertrag
für alle Verkehrssparten durchsetzen will. Bislang sind die
Privatbahnen nicht bereit, eine Vergütung auf dem Niveau der
DB zu akzeptieren.
Während die EVG nach einem Warnstreik im Oktober einem
Schlichtungsverfahren unter Leitung des früheren
Verteidigungsministers und SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck
zustimmte, sieht die GDL dafür derzeit keinen Anlaß. Die
Verhandlungen mit der DB und den Privatbahnen seien »auf
gutem Weg«, und man habe sich in einigen Punkten bereits
geeinigt, erklärte der Bundesvorsitzende Claus Weselsky Anfang
Dezember. Bei der Frage der einheitlichen Entlohnung gibt es
bislang allerdings keine Annäherung. Die Verhandlungen sollen
im Januar fortgesetzt werden. Die GDL hat bereits klargestellt,
daß ihre Geduld bald am Ende sei. Auch das
»Angebot« der Deutschen Bahn, erfolgsabhängige
Einmahlzahlungen auf mögliche Tariferhöhungen
anzurechnen, wurde von der Gewerkschaft zurückgewiesen. So ist
nicht auszuschließen, daß die Lokführer Ende
Januar zu ersten Warnstreiks aufgerufen werden. Doch dafür
sollte man auch als leidgeprüfter Bahn-Kunde wesentlich mehr
Verständnis aufbringen als für das alltägliche
Chaos, welches der Konzern regelmäßig und besonders im
Winter produziert.
https://www.jungewelt.de/artikel/156797.chaos-mit-ansage.html