Der Niedriglohnsektor hat sich in Deutschland in den vergangenen
anderthalb Jahrzehnten deutlich ausgeweitet. Tarifexperte Reinhard
Bispinck vom Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institut der
Hans-Böckler-Stiftung (WSI) legt im aktuellen WSI-Report eine
Bestandsaufnahme dieser Entwicklung und der bislang von den
Gewerkschaften ergriffenen Gegenmaßnahmen vor.
Gemessen an der üblichen Niedriglohndefinition von zwei
Dritteln des mittleren Lohnes (Median) arbeiten derzeit knapp 21
Prozent der abhängig Beschäftigten im
Niedriglohnsektor.
2006 hatten die DGB-Gewerkschaften eine Kampagne für einen
gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro gestartet, im Mai dieses
Jahres erhöhten die sie die Forderung auf 8,50 Euro.
Durchsetzen konnten sie bislang im wesentlichen eine Reihe von
branchenbezogenen Mindestlöhnen auf Basis des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, teilweise auch von
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen nach dem
Tarifvertragsgesetz. Allerdings schreiben die
Mindestlohntarifverträge oft Vergütungen fest, »die
zum Teil weit unter dem Grenzwert von 8,50 bzw. 7,50 Euro«
liegen, schreibt Bispinck.
Die WSI-Untersuchung belegt, daß mehr als 5,83 Millionen
Beschäftigte weniger verdienen als 8,50 Euro in der Stunde.
Neben ausgeprägten Problembranchen gebe es auch
Niedriglohngruppen in vielen »unverdächtigen«
Bereichen mit gemischter Lohnstruktur, betont Bispinck. Dies sei
auch, aber nicht nur, ein Ostproblem.
Die Schutzwirkung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung nach
dem Tarifvertragsgesetz ist der Studie zufolge seit Jahren
rückläufig: Zurzeit seien lediglich die
Tarifvergütungen in einzelnen regionalen Bereichen von drei
Branchen allgemeinverbindlich erklärt. Zugenommen habe dagegen
der Stellenwert des Arbeitnehmerentsendegesetzes. Zurzeit regelt es
allgemeinverbindliche Mindestlöhne in neun Branchen, für
drei weitere liegen die Mindestlohn-Tarifverträge vor, es
fehlt aber noch die erforderliche Rechtsverordnung des
Bundesarbeitsministeriums.
Die große Mehrheit der Betriebsräte unterstützt die
gewerkschaftlichen Forderungen nach einer Regulierung des
Niedriglohnsektors: Der Studie zufolge befürworten 83 Prozent
eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung der
Vergütungstarifverträge in ihrer Branche. Einen
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn befürworten sogar 89
Prozent. Sie schlagen einen Mindestlohn in Höhe von
durchschnittlich 9,30 Euro vor. (jW)
Bispinck, Reinhard: Niedriglöhne und der Flickenteppich
von (unzureichenden) Mindestlöhnen in Deutschland. WSI-Report,
Nr. 4, Oktober 2010
www.boeckler.de