Neues Deutschland klagte am vergangenen Samstag im Feuilleton den
Chefredakteur der Tageszeitung
junge Welt, Arnold
Schölzel, mindestens der sieben Todsünden an
(»Feindschaft oder Versöhnung« von Gunnar Decker,
ND, 26.Juni 2010). Für die erste werden noch mildernde
Umstände gewährt: Als Mitglied einer konspirativen Gruppe
im DDR-Untergrund fiel Schölzel »aus dem Rahmen«,
weil er nicht wie die anderen Kind von privilegierten
Funktionären, Künstlern oder Klerikalen der DDR war.
Sondern ein während des Wehrdienstes in die DDR desertierter
Sohn eines westdeutschen Beamten. Dann aber kommt es schon
knüppeldick: Er habe zweitens die Mitglieder dieser Gruppe,
allesamt Kommilitonen von der Philosophischen Fakultät der
Humboldt-Universität, »politische Romantiker«
genannt. Weil diese an dem Umstand verzweifelt seien, daß die
Realität der DDR sich nicht in ihr Bild vom Sozialismus
einpaßte. Drittens habe er deren illegale Aktivitäten
als Bestandteil eines geistigen Netzwerkes gesehen, »das die
DDR gründlicher zerstört hat als bestimmte politische
Entscheidungen«. Viertens: »Für ihn war mit Hegel
(...) der Staat die Verkörperung der Idee, ihm ging es um die
Machtfrage.« Fünftens war er zwar damals aktiv in dieser
Gruppe, die immerhin den Umsturz der DDR plante. Aber nur deshalb,
weil er das, was die anderen kippen wollten, für etwas
Schützenswertes hielt. Sechstens habe er deshalb Berichte an
das Ministerium für Staatssicherheit geliefert, unter anderem
über illegale Schmuggelaktivitäten. Die Beteiligten
wurden vernommen. Zu Haft, Verurteilungen oder zu so etwas wie den
damals im Westen üblichen Berufsverboten kam es für die
Mitglieder der aufgeflogenen Gruppe nicht. Im ND heißt es
schlicht: »Die Mitglieder der Gruppe wurden sämtlich
verhaftet«. Siebtens wird Schölzel »zynische
Unberührbarkeit« vorgeworfen (was immer das sein soll),
weil er auch nach der Niederlage des Sozialismus bei seiner
Überzeugung blieb und in einem Film über die illegale
Gruppe einschätzte: »Nicht er sei der Verräter
gewesen, sie selber hätten 17 Millionen verraten mit ihren
romantischen Ideen von einem besseren Sozialismus, die am Ende doch
nur dem Feind zum Sieg verholfen haben« (alle Zitate aus dem
genannten ND-Beitrag).
Soweit ist diese Geschichte nicht neu, sie stand im ND und anderswo
bereits mehrfach zu lesen. Sie zeigt einmal mehr, daß
Vorgänge sehr unterschiedlich betrachtet werden können.
Es kommt eben auf den Standpunkt an. Sie liefert Hinweise, welchen
Schölzel (und mit ihm die
junge Welt) und das Neue
Deutschland jeweils einnehmen. Bis dahin hat die Geschichte
durchaus aufklärerischen Wert. Aber am vergangenen Samstag gab
man sich im ND damit nicht zufrieden.
Mörderträume
Denn Autor Decker will offensichtlich nicht aufklären, sondern
abrechnen. Er überführt Schölzel zusätzlich,
sich 2003 in der
jungen Welt mit einem Jetztzeit-Gedicht von
Peter Hacks beschäftigt zu haben. Mit dieser Enthüllung
kann endgültig nachgewiesen werden, was für ein
Schweinehund dieser jW-Chefredakteur sein muß. Weil so eine
Abrechnung dramaturgisch gut inszeniert besser wirkt, stimmt Decker
die ND-Leser zunächst moralisch ein: Was gleich kommen wird,
seien »Mörderträume von Intellektuellen«.
Dann zitiert er Hackssche Überlegungen aus einem satirischen
Gedicht, über das Schölzel 2003 in der
jungen Welt
schrieb. Danach interpretiert Decker nochmals, um auch dem letzten
Deppen klarzumachen, um was es geht: Es handele sich hier um
»die ewige Versuchung ohnmächtiger
Intellektueller«, in diesem Falle dem »selbsternannten
Klassiker« Hacks und dem »weichlich-linkischen«
Philosophen Schölzel, »nicht mehr nur denken (zu)
müssen«, sondern endlich zuschlagen zu können,
»bis die Köpfe rollen«.
Mörderträume, zuschlagen, Köpfe rollen, geht es
nicht noch etwas krasser? Klar doch! Decker erhebt sich über
die genannten kleinlichen Details, um den Gesamtzusammenhang
herzustellen: »Von hier aus versteht man dann auch Hermann
Hesses Gedicht ›Absage‹ von 1933 besser:
›Lieber von den Faschisten erschlagen werden / Als selbst
Faschist sein! / Lieber von den Kommunisten erschlagen werden / Als
selbst Kommunist sein!‹«
Markt der Irrtümer
Faschismus gleich Kommunismus gleich Verbrechen gleich
Schölzel gleich Hacks, und deshalb spräche auch gar
nichts dagegen, Joachim Gauck zum Bundespräsidenten zu
wählen.
Das hat nun Schölzel davon, daß er nicht akzeptieren
will, sich damals auf die falsche Seite geschlagen zu haben. Dabei
gibt es doch einen Markt mit großer Nachfrage für
Irrtümer aus der Vergangenheit, wenn man sie nur leidend und
radikal gewendet genug vortragen kann. Das lebt Hans Dieter
Schütt vor, Chefredakteur der
jungen Welt bis 1989.
Heute ist er Feuilleton-Chef des Neuen Deutschland und damit einer
der Verantwortlichen für den Abdruck des hier diskutierten
Beitrags in der »Sozialistischen Tageszeitung«. Am
Freitag letzter Woche ging Schütt im Rahmen eines Vortrags in
Lüdenscheid »mit sich selbst und seinem früheren
Leben... schonungslos ins Gericht«, wie lokale Medien
berichten. »Vor voll besetzten Rängen schilderte der
gebürtige Thüringer... was es heißt, auf die
falsche Karte gesetzt zu haben. Als Ende einer Selbstgeiselnahme
bezeichnete er das Ende des DDR-Systems, dessen Sprachrohr er viele
Jahre war. ›Journalismus, betrieben für ein unfreies
System, darf nicht auf Entschuldigung hoffen‹, räumte
er ein. (...) Heute – immer noch Journalist – habe der
Westen in ihm überhand genommen. ›Der Westen breitet
sich in mir aus‹. (...) Heute wünsche er sich, eine
andere Vergangenheit zu haben. ›Wir mußten, aber ich
hab’ das zu meinem persönlichen Auftrag gemacht‹,
umriß er seine Rolle bei der Einflußnahme der Partei
auf das, was die Junge Welt -- zentral von oben gesteuert --
veröffentlichte. (...). Politisch wolle er sich nicht mehr
äußern.« (
www.derwesten.de, 29.6.2010, Portal
der WAZ-Mediengruppe)
Standpunkte
Was Schütt heute zu seinem persönlichen Auftrag macht,
ist trotzdem unschwer zu erkennen. Das Neue Deutschland wird
Gründe haben, weshalb es solche Angriffe auf den Chefredakteur
der
jungen Welt und damit auch auf dessen Zeitung
fährt. Nutzen wird es »der Großen unter den
Linken« nicht. Aber es gibt Dienste und Personen genug, die
diesen Artikel für ihren Kampf gegen die
junge Welt
einsetzen werden. Auch dies wird eher dazu beitragen, daß
immer mehr die
junge Welt als ihre Zeitung erkennen. Nicht
trotz derer Standpunkte, Sichtweisen und deren Chefredakteur.
Sondern ihretwegen.