02.07.2010 / Schwerpunkt / Seite 3
Dokumentiert. Gaucks selektive Erinnerung
Unter dem Titel »Das Geheimnis um den Onkel«
veröffentlichte die Zeitschrift Focus in dieser Woche einen
Artikel über »die bisher unbekannte Leitfigur von
Joachim Gauck«. Im Untertitel heißt es weiter:
»Gerhard Schmitt, erst Nazi-Funktionär und später
erbitterter Gegner der SED-Diktatur, prägte den
Präsidentschaftskandidaten«. Die Autoren Armin Fuhrer
und Thomas Tumovec beschreiben zunächst einen Besuch Joachim
Gaucks am 6. November 1989 anläßlich des 80. Geburtstags
von Gerhard Schmitt in Westberlin: »Von den
Reisebeschränkungen ist er nicht so stark betroffen, denn der
Kirchenmann Gauck bekommt erstaunlich oft Ausflüge in den
Westen genehmigt – ein Traum für jeden normalen
DDR-Bürger.« In Gaucks Autobiographie »Winter im
Sommer – Frühling im Herbst«, so die
Focus-Autoren, finde sich »dieser ›aufregende
Abend‹ nicht wieder.« Der vollständige Name von
Gaucks Onkel tauche an keiner Stelle auf.
Nach Focus-Darstellung wurde Gerhart Schmitt am 1. August 1931
Mitglied der NSDAP, Gaucks Mutter Olga und sein Vater Joachim
traten 1932 und 1934 der Nazipartei bei. Der frühere
Stasi-Jäger bezeichne sie heute als
»Mitläufer«. Schmitt unterbrach demnach sein
Theologiestudium, um hauptamtlicher Parteifunktionär zu
werden. Er übernahm Funktionen im Nationalsozialistischen
Studentenbund und wechselte dann: »Das ganze Jahr 1934 war
ich als hauptamtlicher SA-Führer in SA-Lagern kaserniert und
habe dort praktisch und weltanschaulich geschult«, schrieb er
1939. Er wurde Gruppenführer der SA beim Amt für
Ausbildungswesen und schied 1934 aus dem
»militärisch-politischen Beruf« aus. Während
des Zweiten Weltkrieges wurde er 1942 Militärpfarrer, 1945
Seelsorger im mecklenburgischen Sanitz, 1951 Domprediger in
Güstrow, 1954 Landessuperintendent, 1964 Generalsuperintendent
in Berlin. Der Sohn Schmitts gibt laut Focus an, sein Vater habe
Joachim Gauck 1958 zum Theologiestudium gebracht. Bei Gauck wird
diese Rolle des Onkels nicht erwähnt. Der geht 1974 in Pension
und siedelt vier Jahre später nach Westberlin über. 1992
kann er als einer der ersten seine Stasi-Akte einsehen. Er stirbt
im Jahr 2000.
Nach Meinung der Focus-Autoren hat Schmitt, »entscheidenden
Einfluß auf die antikommunistische Prägung Gaucks
gehabt. Und er hat ihn nicht zuletzt davon überzeugt, selbst
ein Mann der Kirche zu werden. Warum verschweigt Joachim Gauck, der
sonst so schonungslos Offenheit fordert, diesen Gerhard Schmitt
fast völlig?«
(jW)
https://www.jungewelt.de/artikel/146854.dokumentiert-gaucks-selektive-erinnerung.html