23.02.2010 / Schwerpunkt / Seite 3
Chronique scandaleuse eines Niedergangs mit Ansage
Seit Januar 2009 kommt die Berliner S-Bahn nicht mehr aus den
Schlagzeilen. Schon 2005 warnte vor allem der Betriebsrat der
Berliner S-Bahn vor den absehbaren Folgen des ruinösen
»Sparkurses«. Ab Anfang 2009 ließen sich sich die
Kapazitätsengpässe besonders in den Werkstätten
nicht mehr kaschieren. Eine kleine Chronik.
Januar 2009 – Bei einem Wintereinbruch fallen innerhalb einer
Woche etwa 3000 Züge aus.
17. Februar: Erneut fallen Züge wegen Frosttemperaturen aus,
auch eine Folge fehlender Wartungskapazitäten. Mitarbeiter
berichten, daß in den Werkstätten sogar
Winterschmiermittel fehlen.
1. Mai: In Berlin-Kaulsdorf entgleist ein S-Bahnzug nach einem
Radscheibenbruch. In Absprache mit dem Eisenbahnbundesamt (EBA)
verpflichtet sich die S-Bahn zu regelmäßigen Kontrollen
in kürzeren Abständen.
30. Juni: Das EBA läßt einen großen Teil der
Berliner S-Bahn-Wagen aus dem Verkehr ziehen, weil die Kontrollen
an Rädern und Achsen nicht ordnungsgemäß
vorgenommen und Radsätze nicht nach der
höchstzulässigen Laufzeit ausgetauscht worden waren. Der
S-Bahn-Verkehr bricht größtenteils zusammen.
2. Juli: Der Vorstand der DB AG entläßt die
Geschäftsführung der Berliner S-Bahn.
16. Juli: Auf der Berliner Stadtbahn fahren erstmalig seit 1945
wochenlang überhaupt keine S-Bahn-Züge mehr. Weitere
Auflagen des EBA legen insgesamt drei Viertel des Wagenparks
lahm.
Ende August. Sechs Wochen nach dem Beginn der Notfahrpläne
fahren Züge wieder etwas häufiger.
7. September: Erneut wird der größte Teil der
S-Bahnzüge vom EBA aus dem Verkehr gezogen, nachdem sich
herausgestellt hatte, daß Bremsanlagen jahrelang nicht
gewartet und Bremszylinder nicht wie vorgeschrieben ausgetauscht
worden waren. Wochenlang ist nur noch etwa ein Viertel der
Züge im Betrieb.
13. Dezember: Die DB AG muß zugeben, daß sie ihr
Versprechen, zum Fahrplanwechsel wieder zu einem normalen Betrieb
zurückzukehren, nicht einhalten kann.
21. Dezember: Der Wintereinbruch führt zu weiteren
Ausfällen. Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos)
schlägt vor, daß das Land Berlin die S-Bahn kaufen und
mit den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) zusammenlegen sollte. Die
Bahn AG schließt einen Verkauf kategorisch aus
22. Dezember: Das EBA verlängert die nach 15 Jahren
auslaufende Betriebsgenehmigung für die S-Bahn wegen fehlenden
Vertrauens in die Zuverlässigkeit des Betreibers nur für
ein Jahr.
26. Dezember: Weil ein Fahrdienstleiter krank ist, gibt es auf der
Linie S2 stundenlang nur eingeschränkten Verkehr. Der
drastische Personalabbau bei der S-Bahn hat dazu geführt,
daß kurzfristige Personalausfälle nicht mehr kompensiert
werden können.
5. Januar 2010: Ein neuer Notfahrplan tritt in Kraft. Nur etwa die
Hälfte der Züge können eingesetzt werden.
6. Januar: Die S-Bahn kann auch den Notfahrplan nicht im vollen
Umfang garantieren und dünnt das Angebot nochmals aus.
1. Februar: Die Bahn AG räumt ein, daß der Regelbetrieb
erst im kommenden Jahr wieder ausgenommen werden kann
23. Februar: Die Bahn AG veröffentlicht ihren
Untersuchungsbericht zu den Ursachen und Hintergründen der
S-Bahn-Krise. Vom geplanten Börsengang ist dabei allerdings
nicht die Rede. (jW)
https://www.jungewelt.de/artikel/139981.chronique-scandaleuse-eines-niedergangs-mit-ansage.html