30.01.2010 / Aktion / Seite 16
»Mit zweierlei Maß gemessen«
Die junge Welt hat zwar viele Fans, aber in der Linkspartei ist nicht jeder glücklich über sie. Ein Gespräch mit Stefan Liebich
Peter Wolter
Stefan Liebich war bis 2005 Landesvorsitzender der PDS in
Berlin. Bei der Bundestagswahl 2009 errang er in Berlin-Pankow ein
Direktmandat für die Linkspartei.
Als gelernter DDR-Bürger haben Sie bis zur
»Wende« vermutlich die junge Welt gelesen. Sind Sie
auch heute noch Leser?
Ich hatte Ihre Zeitung bis Mitte der 90er Jahre sogar abonniert.
Anfangs habe ich sie sehr gern gelesen, dann aber mit sinkender
Begeisterung. Ich habe sie schließlich abbestellt.
Und warum sank die Begeisterung?
Die junge Welt hat aus meiner Sicht immer weniger Zutrauen in ihre
Leserinnen und Leser gehabt. Sie hat die Nachricht immer
stärker mit einer Kommentierung versehen. Das
Schwarz-Weiß-Denken, die Trennung der Welt in Gut und
Böse nahm überhand. Diese Entwicklung fand ich
überhaupt nicht gut.
Das wird in Ihrer Partei offenbar unterschiedlich gesehen. Es
gibt dort viele Fans der jungen Welt, angefangen beim
Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine. Was ist der wahre Grund
dafür, daß uns ausgerechnet der Berliner Landesverband
nicht liebt? Unsere kritische Sicht auf die
Senatspolitik?
Ich habe in bezug auf die Berlin-Berichterstattung kein
spezifisches Problem mit der jungen Welt – außer,
daß die eben geäußerte Kritik auch auf diesen
Bereich zutrifft. Man kann doch auch mal einen Erfolg als Erfolg
darstellen! Ich glaube, es wäre besser, einfach zu berichten
und es den Lesern und Leserinnen zu überlassen, welche Meinung
sie sich aufgrund der Fakten bilden.
Kritiklosigkeit an linken Regierungen kann man der jungen
Welt zumindest für Deutschland nicht vorwerfen. Erst
kürzlich noch hatten wir über die
Koalitionsvereinbarungen mit der SPD in Brandenburg berichtet
und die Frage gestellt, ob Ihre Genossen dort ihre Wahlversprechen
gebrochen haben. Sind wir vielleicht deswegen so unbeliebt, weil
wir das schlechte Gewissen der Linkspartei sind?
Nein. Meine Haltung zu Ihrer Zeitung wäre sicher anders, wenn
sie dieselbe Meßlatte an linke Regierungen in Europa oder in
deutschen Bundesländern legen würde wie an linke
Regierungen in Lateinamerika. Da wird mit zweierlei Maß
gemessen: Was weit weg ist und sich links nennt, ist gut. Wenn aber
Linke in Deutschland Regierungspolitik machen, ist das von
vornherein schlecht. Ich wünsche mir, daß die junge
Welt weniger als Agitationsorgan agiert, sondern sich mehr mit
den Fakten befaßt.
https://www.jungewelt.de/artikel/138691.mit-zweierlei-maß-gemessen.html