09.01.2010 / Schwerpunkt / Seite 3
Dokumentiert: Zu viele Nadeln
Der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell
(1872–1970) schrieb in dem Essay »Lob des
Müßiggangs« zur Irrationalität
kapitalistischer Rationalisierung:
Nehmen wir an, daß gegenwärtig eine bestimmte Anzahl von
Menschen mit der Herstellung von Nadeln beschäftigt ist. Sie
machen so viele Nadeln, wie die Weltbevölkerung braucht, und
arbeiten acht Stunden täglich.
Nun macht jemand eine Erfindung, die es ermöglicht, daß
dieselbe Anzahl von Menschen doppelt so viele Nadeln herstellen
kann.
Aber die Menschheit braucht nicht doppelt so viele Nadeln. Sie sind
bereits so billig, daß kaum eine zusätzliche verkauft
würde, wenn sie noch billiger würden.
In einer vernünftigen Welt würde jeder, der mit der
Herstellung von Nadeln beschäftigt ist, jetzt eben vier statt
acht Stunden täglich arbeiten, und alles ginge weiter wie
zuvor. Aber in unserer realen Welt betrachtet man so etwas als
demoralisierend. Die Nadelarbeiter arbeiten immer noch acht
Stunden, es gibt zu viele Nadeln. Einige Nadelfabrikanten machen
bankrott, und die Hälfte der Leute verliert ihren
Arbeitsplatz. Es gibt jetzt, genau betrachtet, genausoviel Freizeit
wie bei halber Arbeitszeit; denn jetzt hat die Hälfte der
Leute überhaupt nichts mehr zu tun, und die andere
überarbeitet sich.
Auf diese Weise ist sichergestellt, daß die unvermeidliche
Freizeit Elend hervorruft, statt daß sie eine Quelle des
Wohlbefindens werden kann. Kann man sich noch etwas Irrsinnigeres
vorstellen?
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