09.10.2009 / Feuilleton / Seite 12
Nationalisten in Revision
Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk
muß möglicherweise erneut wegen »Beleidigung des
Türkentums« vor Gericht. Am Mittwoch gab das Oberste
Appellationsgericht der Türkei Anhängern
nationalistischer Organisationen Recht, die ein
Wiederaufnahmeverfahren forderten.
Pamuk war 2006 wegen eines im Schweizer Tagesspiegel abgedruckten
Interviews angeklagt worden, in dem er erklärt hatte:
»30 000 Kurden und eine Million Armenier wurden auf diesem
Boden getötet«. Nach türkischen Gesetzen ist eine
solche Thematisierung des türkischen Genozids an den Armeniern
während des Ersten Weltkrieges 1915/16 verboten und gilt als
»Beleidigung des Türkentums« nach dem
berüchtigten Strafrechtsparagraphen 301. Darauf stehen bis zu
fünf Jahre Gefängnis.
Der erste Prozeß gegen Pamuk vor einem Istanbuler
Bezirksgericht wurde nach internationalen Protesten Anfang 2006
offiziell aufgrund einer fehlenden Weisung des türkischen
Justizministers eingestellt. Die türkische Regierung hatte
negative Auswirkungen auf die EU-Beitrittsverhandlungen der
Türkei im Falle einer Verurteilung des bekannten
Schriftstellers befürchtet.
Nationalistische Kreise haben sich seitdem um eine Wiederaufnahme
des Verfahrens bemüht. Der Hauptkläger, Rechtsanwalt
Kemal Kerincsiz, befindet sich allerdings seit vergangenem Jahr in
Haft, weil er dem rechtsextremen Putschistennetzwerk Ergenekon
angehören soll. Ergenekon soll unter anderem für den Mord
am armenischen Journalisten Hrant Dink Anfang 2007 verantwortlich
sein und auch einen Anschlag gegen Pamuk geplant haben. Nick Brauns
https://www.jungewelt.de/artikel/132763.nationalisten-in-revision.html