18.09.2009 / Feuilleton / Seite 12
Ostberlin-Krise
Wer heute das alte Ostberlin sucht, der muß entweder alte
»Polizeiruf 110«-Sendungen sehen oder tief nach
Weißensee oder Pankow oder Lichtenberg reinfahren. Mitte und
Prenzlauer Berg sind verloren, keine Frage. In dem Kurzfilm
»Wessi go home!« führt Ralph Inka Gruber
Interviews mit ausgewählten selbstredend semiverzweifelten
Ureinwohnern des fast vollständig überteuerten und
verschwachmateten Prenzelbergs. Unter ihnen ist auch Alexander
Spree, der auf seinem Balkon eine Anekdote über seinen ersten
Westkontakt zum besten gibt. Als Kind war er in einem Ferienlager
in Bulgarien. Auf dem Nachttisch hatte er ein mühsam
organisiertes Zehnerpack Westkaugummi zu liegen, von dem er sich
jeden Tag einen genehmigen wollte. Ein Junge aus dem Westen fragte
ihn, ob er auch einen haben könne? Aus Höflichkeit
willigte Spree ein und wurde entsetzt gewahr, wie sich der
Westjunge den gesamten Packungsinhalt in den Mund schob, kurz
darauf rumkaute und dann wieder ausspieh.
Soviel zum Funktionieren von Freiheit und Abenteuer. Zum
Schluß von »Wessi go home« wird sich jedenfalls
in der Kneipe bewaffnet.
Läuft heute um 18 Uhr in der Berliner Brotfabrik am
Caligariplatz in Weissensee. Außerdem wird der
anrührende Kurzfilm »Applaus für Stalin« von
Jörg Broksch gezeigt. Sekt gibt es obendrein. Musik macht
Alexander Spree, eines der letzten nichtkommerziellen Ostberliner
Künstlergenies. Der singt wie Otto Reutter am Klavier, kann
aber auch Pornorap. Auf Youtube mal »Tourette« ansehen
– ein Schlag ins Gesicht des westlichen Imperialismus. (jW)
https://www.jungewelt.de/artikel/131623.ostberlin-krise.html