11.07.2009 / Aktion / Seite 18
Neu erfunden
Die junge Welt behauptet sich nicht nur, sie legt noch zu
Arnold Schölzel
Ächzen gehört zum Journalistenhandwerk – der
Verleger bezahlt schlecht, der Chefredakteur ist unausstehlich, und
Leser, Hörer, Zuschauer sind es nicht wert, etwas mitgeteilt
zu bekommen. Derzeit kommt zum notorischen Branchenjammer
Zähneklappern hinzu. Angeblich stehen die Tageszeitungen vor
dem baldigen Aus, die Wirtschaftskrise vernichtet den
Anzeigenmarkt, und das Internet raubt dem Zeitungsmann den Beruf,
weil den angeblich die Blogger erledigen.
Für all das gilt: tiefer hängen. An allem ist etwas dran,
im einzelnen ist es aber nicht wahr, und für die Medienbranche
als Ganzes gilt, daß vom Kapitalismus seit den Anfängen
des Journalismus kein gut bezahlter unabhängiger Journalismus
erwartet werden durfte, schon gar nicht, wenn die Zunft über
sich selbst berichtet. Es geht wie überall im Kapitalismus um
Rendite, Rendite, Rendite, manchmal auch um Wahrhaftigkeit, sehr
selten um Wahrheit. Nur wenn beides miteinander vereinbar ist, gibt
es auch beides, wenn nicht, hat der Gelderwerb Vorrang. Das Problem
derzeit scheint zu sein: In den Nachkriegsjahrzehnten haben
Zeitungen in der Bundesrepublik ihre Besitzer auf spielende Weise
reicher gemacht. Tageszeitungen mit ganzseitigen ALDI-Annoncen in
konstantem Rhythmus waren eine Lizenz zum Gelddrucken. Das
Zusatzgeschenk, das den westdeutschen Medienkonzernen mit den
DDR-Zeitungen in den Schoß fiel, war ein nicht
unbeachtliches, aber insgesamt kleines Zubrot. Die Pläne waren
größer: Heute haben die meisten Staaten Osteuropas kaum
eigene Zeitungen. Die sind in der Hand bundesdeutscher
Verlegerdynastien.
Nach dem großen Reibach 1990 ließ die Geschwindigkeit
des Reicherwerdens aber nach. Das führt zu beachtlicher Unruhe
bei den Eigentümern von Medienkonzernen und ihren leitenden
Redakteuren. Die Frankfurter Rundschau mußte vor ein paar
Jahren von Roland Koch und der SPD gemeinsam gerettet werden, bevor
sie als saftiges Geschenk an Dumont aus Köln ging.
Sind solche Voraussetzungen des hiesigen Journalismus geklärt,
lohnt es sich, dem Phänomen junge Welt einige
Überlegungen zu widmen. Die Zeitung ist die Ausnahme. Sie
stellt sich dem Markt, aber nicht, um für irgend jemand Profit
zu erwirtschaften. Sie ist journalistisch faktisch als einzige
Tageszeitung von Parteien und Konzernen unabhängig, ist aber
nicht beliebig. Sie steht keiner bestimmten Partei nahe, ist aber
politisch eindeutig zuzuordnen – antikapitalistisch,
marxistisch, antimilitaristisch, antifaschistisch, um die
wichtigsten Stichworte zu nennen. Umgekehrt sprechen auch die
schmückenden Beiworte, mit denen sie von ihren Gegnern bedacht
wird, von politischer Klarheit und Hilflosigkeit im Umgang mit ihr.
Sie reichen von »traditionskommunistisch«
(Verfassungsschutz), »stalinistisch« (Die Welt),
»antisemitisch« (konkret und Die Welt) bis
»Obdachlosenzeitung« (taz). Die Adjektive drücken
die Mischung von Grusel und Empörung aus, die den deutschen
Durchschnittsschreiber befällt, wenn er ahnt, daß die
Macher dieser Zeitung ein illusionsloses Verhältnis zu der
Gesellschaft haben, in der sie leben, und mit dazu beitragen
wollen, Illusionen über die gesellschaftlichen
Verhältnisse, vor allem über die von Macht und Eigentum,
zu durchlöchern. Eine Zeitung, die sich den sozialen
Katastrophen widmet, den mühsamen Versuchen, sich gegen die zu
wehren, sich zu organisieren oder sogar Widerstand zu leisten, kann
aus dieser Sicht nur kommunistisch sein. Das aber ist verboten,
grundsätzlich, von BND-wegen und weil Friede Springer und
Hans-Olaf Henkel, Marianne Birthler und Hubertus Knabe, Angela
Merkel und Frank-Walter Steinmeier öfter deutlich machen, was
mit aufklärerischer Publizistik oder Kommunisten zu passieren
hat: Sie sind mindestens des Terrorismus zu
verdächtigen.
In der gegenwärtigen Krise wirkt solche Propaganda noch
weniger überzeugend als gewöhnlich. Es kommen
zwangsläufig soviel unschöne Dinge über den
kapitalistischen Bank- und Industrieverkehr zur Sprache, daß
das Publikum an Enthüllung großes Interesse hat,
schließlich geht es um vielleicht Millionen Existenzen. Die
Diskrepanz zwischen gepredigter und praktizierter Moral ist mal
wieder besonders groß. Das hat noch nie direkt zu einer
Revolution geführt, aber es ist ein Anstoß zum
Nachdenken. Der Schriftsteller Dietmar Dath schreibt in
»Maschinenwinter« über die moralische Lage der
Nation: »Selbstverständlich ist eine Gesellschaft
unanständig, in der jemand mehr Wohnraum besitzen als bewohnen
kann und Behausungen also leerstehen, damit beim Finanzamt Verluste
angegeben werden können, in deren Schatten anderswo, im
Warmen, Feuchten und Unsichtbaren, große Gewinne gedeihen.
Selbstverständlich ist eine Gesellschaft schweinisch, die
einerseits für ihre Spitzensportler Laufschuhe mit eingebauten
Dämpfungscomputern bereitstellt, andererseits aber alten
Frauen mit Glasknochen die Zuzahlung zum sicheren Rollstuhl
verweigert und einen Pflegenotstand erträgt, für den sich
tollwütige Affenhorden schämen würden.
Selbstverständlich ist eine Gesellschaft obszön, in der
Zahlungsmittelengpässe, Liquiditätskrisen und Bankenbeben
vorkommen, weil, wie im Sommer und Winter 2007 geschehen,
plötzlich deutlich wird, daß Kredite, die man armen
Amerikanern aufgeschwatzt hat, damit sie sich Eigenheime kaufen,
die sie sich unmöglich leisten können, tatsächlich
nicht zurückgezahlt werden. Selbstverständlich ist eine
Gesellschaft widerlich, die all diese Dinge sogar in ihren leidlich
gepolsterten Gewinnergegenden zuläßt; vom Elend der
sogenannten Peripherie, den ›darker nations‹ (Vijay
Prashad), den ›trüben Völkern‹ (Hegel),
will man eh nichts mehr hören.«
Das alles besagt, daß der Kapitalismus eine Zumutung geworden
ist, die für die Mehrheit der Menschheit eine Frage von Leben
und Tod ist. Der Hintergrund und die Grundlage dieser Entwicklung
sind nicht wenigen klar: Es ist eine ungeheure
Produktivitätsentwicklung, die sich in den Händen des
Kapitals in erster Linie in Waffen, in Destruktionswerkzeuge
für Natur, Menschen und soziale Gemeinschaften verwandelt. Sie
führt in einem industriellen Kernland wie der Bundesr publik
nicht etwa zur Arbeitszeitverkürzung, zu
Mehrbeschäftigung, sondern zur Erhöhung der Arbeitshetze
für Beschäftigte und zur faktischen Ausgrenzung von
derzeit mehr als 20 Millionen Menschen mangels Einkommen aus dem
gesellschaftlichen Leben.
Hier haben die Mainstreammedien ihre Aufgabe. Die Reallöhne
sinken in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten, da aber von der
Bewußtseinsindustrie der Schein aufrechterhalten wird,
daß sie steigen, wird verbreitet, daß die Deutschen aus
Angst sparen, geizig sind, weil es geil sei, aber im übrigen
als Konsumenten dauernd optimistisch in die Zukunft sehen. Weil der
nächste Aufschwung kommt. Weil die Bundesregierung eine
Abwrackprämie für Autos verteilt, was jüngst ein
Fachmann mit dem Verteilen von Benzin fürs
Häuserabfackeln verglich, womit die Bauindustrie gestützt
werden solle. Weil alle in einer neuen
»Volksgemeinschaft« zusammenhalten. Weil die Ursache
der Krise lediglich die Gier einiger Manager war etc.
Die Dinge aufzählen, heißt, die täglichen Grotesken
der Scheinwelt, die inszeniert wird, benennen. In dieser Welt
kommen Hartz-IV-Betroffene als Elendsgestalten oder individuelle
Versager vor, nicht als Facharbeiter beim pleitegegangenen
Fahrzeugbauer Karmann, die nach 25 Jahren
Betriebszugehörigkeit in einer Transfergesellschaft landen,
nach vier Monaten ins Arbeitslosengeld I sacken und in einem Jahr
Arbeitslosengeld-II-Bezieher werden. In dieser Welt führt die
Bundeswehr keinen Krieg in Afghanistan, sondern geht dort einem
Stabilisierungsauftrag nach. In dieser Welt sind Syrien,
Ägypten, Marokko etc. Folterstaaten, aber nicht die USA, nicht
die Bundesrepublik, deren Sicherheitsbehörden gern von
Foltergeständnissen profitieren – wie von Amnesty
International im Mai 2009 bescheinigt.
In dieser Welt, in der laut Medien alles im großen und ganzen
in Ordnung ist, in der es keine soziale Frage gibt und keinen
Klassenkampf, nur Umverteilung von oben nach unten, aber nie von
unten nach oben, in dieser Welt sinken also die Auflagen der
Zeitungen, laufen die Anzeigenkunden weg und nehmen die Blogger den
Journalisten die Arbeit weg?
Da ließe sich – sozusagen unternehmensberaterisch
– sagen: Leute, versucht es doch einmal mit einer anderen
Geschäftsidee. Schreibt in euren Zeitungen, was »unten,
wo das Leben konkret ist«, passiert und weniger über
Dieter Bohlen, Verona Pooth, die Kostüme der Bundeskanzlerin
und Hubertus Knabes plastiniertes DDR-Leichenbild. Rückt
einfach die Anzeigenabteilung etwas weiter weg vom
Nachrichtentisch, um David Montgomerys Leitsatz für modernen
Journalismus nicht nur in der Berliner Zeitung zu verwenden.
Schafft euch ein Weltbild an, das auf Bildung und nicht auf
Propaganda beruht. Solche Vorschläge machen, heißt
einsehen, daß sie undurchführbar sind. Ihre
Verwirklichung setzt die Abschaffung des Kapitalismus voraus.
Diese Vorschläge machen, heißt aber auch, das
Geschäftsmodell, mit dem sich die junge Welt behauptet,
erläutern. Diese Zeitung existiert auf ihrer Grundlage schon
vor der Abschaffung des Kapitalismus. Das ist paradox, hängt
aber damit zusammen, daß in dieser Zeitung eine illusionslose
Haltung vorherrscht: So nötig der Kommunismus erscheint, so
wenig realisierbar erscheint er in absehbarer Zeit. Praktisch
bedeutet das, sich den Realitäten des Zeitungsmarktes zu
stellen: Die langsam sich der Zahl 20 000 nähernden Exemplare
der jungen Welt sind unter den etwa 20 Millionen
Tageszeitungsexemplaren in der Bundesrepublik eine sehr kleine
Größe. Allerdings: 1990 waren es 27 Millionen Exemplare,
und die junge Welt hatte zwischendurch eine erheblich niedrigere
Auflage. Sie ist kein gallisches Dorf, das auf schrumpfendem
Gelände kämpft, sondern ein Informationsorgan für
engagierte Linke, das Schritt für Schritt, viel zu langsam, an
Auflage und Lesern zulegt. Ihre Stellung unter den Medien bedingt,
daß sie sich jeden Tag neu erfinden muß.
Schließlich muß der Journalismus neu erfunden werden,
nachdem er derart gründlich ruiniert wurde. In jW geht es
nicht um verwirrte Darstellung, sondern um Darstellung von
Verwirrung (Brecht), um Lustmachen auf Veränderung, um
Auseinandersetzung mit Irrationalismus und Antikommunismus. Wer so
etwas macht, darf als Tageszeitung eigentlich nicht existieren.
Macht das aber – mit guten Aussichten auf Erfolg.
Der Beitrag stammt aus unserer aktuellen Broschüre
»Unsere Zeitung. Unsere Kultur. Unsere
Genossenschaft«.
https://www.jungewelt.de/artikel/127931.neu-erfunden.html