19.06.2009 / Schwerpunkt / Seite 3
»Deutlich frechere, kühnere und radikalere Töne«
Aus der Erklärung der Linksparteiströmung
»Antikapitalistische Linke« in Nordrhein-Westfalen
»zum Ausgang der Europawahlen und unsere weiteren
Aufgaben«:
Die Linke in Deutschland gehört nicht zu den Verlierern der
Wahl zum Europäischen Parlament vom 7. Juni 2009. Sie hat ihr
Stimmenergebnis gegenüber dem Ergebnis der PDS bei der
Europawahl 2004 um 400000 Stimmen auf 1,97 Millionen verbessert.
Sie hat mit acht Mandaten ein zusätzliches Mandat im
EU-Parlament gewonnen. Dennoch werden der Wahlkampf und das
Ergebnis sowohl innerhalb der Mitgliedschaft, der
Anhängerschaft und in der veröffentlichten Meinung als
unbefriedigend und hinter den Erwartungen zurückgeblieben
bewertet. Wir teilen diese Auffassung und halten eine ehrliche und
breite Diskussion dazu erforderlich, damit bei den kommenden Wahlen
bessere Ergebnisse für Die Linke erzielt werden.
(…)
Auch wenn wir den »Ergebnissen« der Wahlforschung mit
gesunder Skepsis gegenüber stehen, so lassen sich für die
Wahlkampagne der Linken in Deutschland einige Dinge relativ
zweifelsfrei feststellen. Die Linke verpaßt
Mobilisierungserfolge aus dem Lager der Nichtwähler und
mobilisiert nur die Hälfte der Stimmen, die bei der
Bundestagswahl 2005 für die Linke votierten, erreicht also gut
zwei Millionen Wähler nicht mehr. In den
Westbundesländern steigert sie die Zahl ihrer Stimmen
gegenüber der EU-Wahl 2004 um mehr als das Doppelte, in den
Ostbundesländern verliert sie 100000 Stimmen. Wie bei allen
Wahlen wird die Linke überdurchschnittlich von Erwerbslosen
und von Männern im Alter zwischen 50 und 65 Jahren
gewählt. Der Anteil derjenigen, die schon bei den letzten
Wahlen Die Linke gewählt haben ist hoch, höher als
entsprechende Wählergruppen bei den anderen Parteien. Die
Linke hat somit schon fast eine lokalisierbare
Stammwählerschaft. Darin fehlen allerdings, wie auch in der
Mitgliedschaft, die Frauen. Die Charakterisierung als
»Protestwählerpartei« ist demnach falsch, im
Gegenteil, es ist der Linken nicht gelungen, bei der EU-Wahl ein
solches Image aufzubauen und damit Stimmen zu mobilisieren.
Der Grund dafür und auch der entscheidende Grund für die
generell schlechte Mobilisierung der Wählerschaft sind ganz
sicher die Nichtausnutzung des bei dieser Wahl größten
Mobilisierungsthemas: die Kritik und Ablehnung der konkreten EU.
Als Partei, die sogar einen Verfassungsgerichtsprozeß gegen
den EU-Vertrag führt, als Partei, die in allen konkreten
Politikfeldern das Europa des Kapitals und der EU-Regierungen
kritisiert und radikale Alternativen präsentiert, hat die
Linke dennoch alles getan, ein »europafreundliches«
Image aufzubauen – in der Angst, durch den politischen Gegner
desavouiert zu werden. Das hat zu wenig Profil und
Wiedererkennbarkeit geführt. (…)
Die Linke hat es versäumt, angesichts der Wirtschaftskrise ein
scharfes antikapitalistisches Profil zu entwickeln. (…) Das
System selbst stellt die Systemfrage, und wir drücken uns
davor, suchen nur den Konkurrenzkampf mit SPD und Grünen um
das umfangreichste »Konjunkturprogramm«. Wir bleiben
bei unserer im täglichen Leben in den Betrieben und im
Stadtteil bestätigten Feststellung: Die Menschen erwarten von
uns deutlich frechere, kühnere und radikalere Töne, als
die, die wir zur Zeit aussenden. Und selbst wenn wir in der einen
oder anderen Situation ein Stück zu weit vorauseilen, so
treiben wir auch dadurch den gesellschaftlichen Diskurs weiter und
warten nicht darauf, daß wir getrieben werden.
Aus der Parteiführung und verschiedenen anderen Stellen der
Partei kommen jetzt Appelle zu mehr »Geschlossenheit«
und Zurückhaltung im innerparteilichen Streit, weil deren
Fehlen angeblich zu den schlechten Wahlresultaten geführt
habe. Diese Diagnose entspricht in keiner Weise der Wirklichkeit
und niemand hat bisher dafür empirische Befunde und
Umfragenentwicklungen vorgetragen.
Auch wir halten verschiedene öffentliche Auftritte, die auf
innerparteiliche Diskussions- und Entscheidungsprozesse
Einfluß nehmen wollen, vor allem mittels der bekannten
bürgerlichen Presseorgane, die keinen Hehl daraus machen, uns
schädigen zu wollen, für kontraproduktiv. Nicht, weil sie
uns im nennenswerten Ausmaß Wählerstimmen kosten,
sondern weil sie innere Solidarität, konstruktives Parteiklima
und Leidenschaft in Wahl- und vor allem sozialen Kämpfen
schwächen. Wir als Antikapitalistische Linke weisen jedoch
darauf hin, daß es leider regelmäßig die Vertreter
der »gemäßigten« Parteilinie und selbst
ernannte Parteiprominenz aus Bundestags- oder Landtagsfraktionen
sind, die seit geraumer Zeit statt der internen Diskussion, lieber
den Genossen zum Teil persönlich diffamierenden
»Großen Auftritt« vor irgendeinem Mikrofon
suchen.
(…) Die Linke benötigt den Streit, die breiteste
interne Debatte wie das Atmen zum Leben. Wir werden Stimmen
gewinnen und nicht verlieren, wenn wir uns in diesem Sinne als eine
offene, diskursfähige Partei aufstellen. Wir werden schneller
und mehr neue Mitglieder gewinnen, wenn wir jederzeit beweisen,
daß selbst der kleinste und unerfahrene Beitrag eines
Neumitgliedes wichtig ist und Wirkung zeigt.
Wir stehen noch vor einer Reihe von Wahlen, das
»Superwahljahr« ist noch nicht vorbei. Noch bestehen
Chancen, im Parteiaufbau und Wahlkampf notwendige Korrekturen
vorzunehmen. Sie müssen vorgenommen werden, wollen wir nicht
schon innerhalb kurzer Zeit, zu einer Partei verkommen, die zwar
viele Mandate und viel Geld hat, die geschlossen und leicht zu
händeln ist, wie es die bürgerlichen Medien gerne
hätten, die Stammgast in Talkshows ist – die aber im
wachsenden Maße den Millionen Menschen nichts mehr zu sagen
hat und in deren Hoffnungen und Kämpfen keine Verbündete
mehr ist.
Einmütig angenommen am 14. Juni 2009 in Mülheim/Ruhr
https://www.jungewelt.de/artikel/126774.deutlich-frechere-kühnere-und-radikalere-töne.html