25.04.2009 / Aktion / Seite 16
Wer hat Angst vor wem?
Dietmar Koschmieder
Noch vor wenigen Tagen sahen manche Wirtschaftsexperten und
Politiker einen Silberstreif am Horizont. Wirtschaftsminister Karl
Theodor zu Guttenberg hielt es am Mittwoch für »nicht
ausgeschlossen«, daß noch in diesem Jahr die Talsohle
erreicht sei. Am gleichen Tag sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel
allerdings von einem schweren Wirtschaftseinbruch. Und
Finanzminister Peer Steinbrück sagte, es gebe eine
»ungebremste Abwärtsbewegung«. Vor einigen Monaten
mahnten die gleichen Herren und jene Dame fast täglich, eine
derartige Krise nicht herbeizureden.
Mittlerweile weiß jeder, daß das kapitalistische
Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in der schärfsten Krise
seit Jahrzehnten steckt. Und wer die Folgen zu tragen hat.
Kürzungen, Kurzarbeit, Massenentlassungen, Arbeitsverdichtung
betreffen fast alle. »Wenn die immensen Kosten der Krise nach
den Wahlen dann auch noch auf die Bevölkerung abgewälzt
werden, entsteht ein Gebräu, das explosiv sein kann«,
sagt ein DGB-Sprecher. Dem Land drohten soziale Unruhen, warnt
DGB-Chef Michael Sommer. In den Millionen, die zur Rettung der
Banken ausgegeben werden, sieht Sommer einen weiteren
»entscheidenden Faktor für die Gefahr eines Aufstandes
in der Bevölkerung«. Die Regierung wies die Warnung
Sommers umgehend zurück.
Dabei bereiten sie sich längst darauf vor. Sie haben die
Wirtschaftskrise nicht im Griff. Aber sie wissen genau, daß
sie die sich daraus ergebenden Lasten auf die Bevölkerung
abwälzen werden. Und daß dies zur Verschärfung der
sozialen Ungleichheit und damit auch zu Protesten führen wird.
Sie sehen die bestehenden Eigentumsverhältnisse und die damit
verbundenen Privilegien der besitzenden Klasse zu Recht
gefährdet und werden sie mit allen Mitteln verteidigen. Das
kapitalistische Deutschland wird nicht nur am Hindukusch
verteidigt, sondern auch dort, wo sich die eigene Bevölkerung
erdreistet, ihren Protest und Widerstand wirkungsvoll zur Geltung
zu bringen. Polizei, Militär und Geheimdienste werden dazu in
Stellung gebracht. Der Feind ist nicht mehr der sogenannte Schwarze
Block, sondern jeder, der aufmüpfig wird oder sich nur in der
Nähe einer Demonstration aufhält. Dieses Szenario ist
nicht herbeigeredet. Am 1. April starb in London der
Zeitungsverkäufer Ian Tomlinson nach Polizeischlägen.
Vier Tage zuvor stand in dieser Zeitung an dieser Stelle:
»Letztlich werden auch Tote in Kauf genommen.«
Protest und Widerstand sollten sich dadurch nicht schwächen
lassen. Der 1. und der 16. Mai sind die nächsten beiden
großen Aktionstage, um Widerstand zu mobilisieren. Je mehr
Menschen auf die Straße gehen, desto sicherer sind die
Demonstranten vor Übergriffen.
https://www.jungewelt.de/artikel/124085.wer-hat-angst-vor-wem.html