28.02.2009 / Aktion / Seite 16
Wirtschaftskrise und Zeitung
Arnold Schölzel
Kurz vor Redaktionsschluß meinte am Dienstag ein Kollege
seufzend: »Heute hätten wir acht Seiten über die
HSH Nordbank machen können.« Die Landesregierungen von
Schleswig-Holstein und Hamburg hatten gerade beschlossen, das
Institut mit Geld zu retten, das sie nicht haben. Der
Aufsichtsratschef, ein Hamburger Exsenator, verabschiedete sich
unbehelligt in den hochdotierten Ruhestand. Seine Verantwortung
für den Verlust von einigen Milliarden Euro schlägt sich
auf seinem Pensionskonto nicht nieder, und die Justiz hierzulande
interessiert sich nur mäßig für Leute, die den
Handel mit Wertpapieren, die sie nicht durchschauen,
»beaufsichtigten«.
Die Fülle an Material zur Weltwirtschaftskrise, mit der die
junge Welt gegenwärtig konfrontiert wird, stellt die normalen
Arbeitsvorgänge oft auf den Kopf: Nicht die Redakteure suchen
nach Themen und Autoren, die stellen sich eher von selbst ein. Eine
kleine Zeitung wie die junge Welt scheint dennoch zunächst im
Vergleich mit Wirtschaftsredaktionen, die allein mehr
Beschäftigte haben als der gesamte Verlag 8. Mai, hoffnungslos
im Hintertreffen zu sein. Die vermeintliche Schwäche erweist
sich aus meiner Sicht aber gerade in dieser Situation als
Stärke. Gemeint ist nicht nur der Zwang, sich aufs Wesentliche
zu konzentrieren. Der gehört zum jW-Selbstverständnis
generell. Wer sechsmal wöchentlich nur 16 Seiten zur
Verfügung hat, muß sich quantitativ
einschränken.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, daß unsere
Maßstäbe für die Unterscheidung von Wichtigem und
Unwichtigem offenbar geeignet sind, manchmal andere sogar in
Schnelligkeit der Nachrichtenverbreitung, aber auch im Erfassen der
wichtigsten Trends zu schlagen. Ein Beispiel: Am vergangenen
Wochenende verbreiteten zahlreiche Medien Berichte über die
katastrophale Verschuldung osteuropäischer Länder und die
gigantische Summe von über einer Billion Euro, die vor allem
westeuropäische Banken dort angelegt haben. In jW ist die
faktische Kolonisation jener Länder durch westliche Konzerne
ständiges Thema. Es sagt allein mehr über das Wesen der
EU und des deutschen Kapitalismus aus als manche Wahlprogramme. In
jW war die genannte Billionensumme bereits Tage zuvor Gegenstand
einer längeren Analyse von Tomasz Konicz. Uns hilft, daß
wir keine Angst vor schlechten Nachrichten haben. Das bedeutet
nicht, alarmistisch oder gar mit Freude das Desaster zu begleiten,
sondern nüchtern die entscheidenden Entwicklungstrends zu
verfolgen.
Unsere Schwächen verlieren wir nicht aus dem Blick –
angefangen damit, daß wir bei bestimmten Ereignissen mehr
Seiten benötigen, vor allem aber mehr Information. Die
Ereignisse bestätigen aber auf ihre Weise, daß diese
Zeit diese Zeitung braucht.
https://www.jungewelt.de/artikel/121239.wirtschaftskrise-und-zeitung.html