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Aus: Ausgabe vom 29.09.2025, Seite 11 / Feuilleton
Sprache

Wer grübelt, gräbt nicht tief

Von Marc Hieronimus
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Man muss immer Turnschuhe tragen, das ist alles: Die einzige Lösung

Grübeln macht unglücklich. Eigentlich ist Umlaut plus L etwas Niedliches: Ein Lächeln ist ein kleines Lachen, Köcheln weniger als Kochen. Wenn sich etwas oder jemand schlängelt, denken wir nicht an giftige oder würgende Kriechtiere. Wenn Flammen züngeln, brennt es noch nicht lichterloh. Fremdeln ist noch keine Xenophobie. Auch ähneln ist eine Verkleinerung, aber nicht der Ahnung, sondern der Vorfahren: Rein optisch könnte man verwandt sein wie mit den Ahnen. So viel zur morpho-etymologischen Vorentlastung.

Wie das nun zum Grübeln passt? Bestens. Wer grübelt, gräbt nicht tief, dringt nicht durch zu den tieferen Schichten, zu den Ursachen, sondern kratzt nur an der Oberfläche. Grübeln ist weniger mit dem Grab als mit der Grube verwandt, Grübler fühlen sich ja nicht tot, nur unterirdisch schlecht und gefangen in der ewig gleichen Rille (engl. groove). Der lateinische Fachbegriff ist ruminieren, also wiederkäuen, was es anders gut trifft. Im Französischen sind z. B. auch Kühe Grüblerinnen.

Auch die Gruft kommt aus der Grübelwortfamilie und mit ihr die Gruftis. Gibt es die eigentlich noch? Jedem Teenie seinen Spleenie. Und hier schließt sich der Kreis. Denn erstens gelten auch die schwarzgekleideten Schauerjugendlichen nicht gerade als lebensfrohe Spaßvögel, zweitens denkt die belesene Kulturbeobachterin bei »Spleen« selbstredend weniger an Fimmel, Tick, Marotte, Schrulle, sondern an das englische Wort für Milz und Verdruss und damit an Baudelaires Prosagedichtsammlung »Le Spleen de Paris«: »Man muß immer trunken sein. Das ist alles: die einzige Lösung. Um nicht das furchtbare Joch der Zeit zu fühlen, das euere Schultern zerbricht und euch zur Erde beugt, müsset ihr euch berauschen, zügellos. Doch womit? Mit Wein [also saufen/süffeln], mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt. Aber berauschet euch. Und wenn ihr einmal auf den Stufen eines Palastes, auf dem grünen Grase eines Grabens [sic!], in der traurigen Einsamkeit eures Gemaches erwachet« und der Rausch verflogen ist, sollt ihr, also wir, wieder von vorne anfangen. Oder doch mal zwei, drei Sitzungen bei der kassenärztlichen Fachkraft buchen. Hauptsache nicht grübeln.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Dieter K. aus Heidelberg (29. September 2025 um 15:52 Uhr)
    Der Artikel »Wer grübelt, gräbt nicht tief« ist zwar witzig geschrieben, mit einem Augenzwinkern, d.i. ironisch erzählt, man sollte trotzdem auf der Hut sein, denn falsche Ratschläge können tödlich enden, um den Warnhinweis auf Zigarettenschachteln zu variieren. Der vom Autor gemeinte Zustand ist auch besser mit Trübsal blasen oder sich im Kreise drehen bezeichnet. Als erste belastende Korrektur »[...]zur morpho-etymologischen Vorentlastung.« In meinem Herkunftswörterbuch steht: »grübeln: Das auf dt. Sprachgebiet beschränkte Verb [...] graben, herumstochern, herumbohren, nachforschen, nachdenken, ist eine Iterativbildung zu dem unter graben behandelten Verb.« Also, was spricht denn dagegen so zu grübeln? Die Frage aber ist die, ob man es schon kann, denn grübeln will, so wie Kritik auch, gelernt sein. Und wer es nicht gelernt hat, sollte iterativ solange graben, herumstochern, herumbohren, nachforschen, nachdenken, bis er es kann. Natürlich sollte er dabei die richtigen Mittel benützen (kritische Bücher, jW lesen) bis er es gelernt hat. Also warne ich davor, sich des unglücklichen Bewusstseins durch zügelloses berauschen [saufen] zu entledigen. Ganz entschieden aber warne ich davor »... Sitzungen bei einer kassenärztlichen Fachkraft zu buchen.« Diese Berufssparte hat ein Menschenbild zur kassenärztlichen Zulassung als Voraussetzung, dass es einem größtmöglichsten Unfall in der bürgerlichen Gesellschaft gleicht, wenn in solchen Köpfen noch Raum für einen kritischen Gedanken übrigbleibt. Den Sachverhalt, einer schlechten Gemütsverfassung wegen von einem aktuell nicht lösbaren Problem sich belästigt zu fühlen, bedarf also ganz anderer Techniken. Dieter Kaufmann, Heidelberg

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