Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
Gegründet 1947 Dienstag, 3. Dezember 2024, Nr. 282
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
Aus: Ausgabe vom 02.10.2024, Seite 12 / Thema
Solidarität mit Palästina

Mit aller Härte

Die Berliner Polizei überzieht die palästinasolidarische Bewegung seit Beginn des Gazakriegs mit Repression. Besonders im Fokus: Geflüchtete Aktivisten aus Gaza
Von Mariam Salameh-Puvogel
12-13.jpg
Inzwischen ein vertrautes Bild in Berlin. Die Polizei geht äußerst repressiv gegen Demonstranten vor, die Solidarität mit den Menschen in Palästina üben (Berlin-Kreuzberg, 14. September 2024)

Bei einer Demonstration am 14. September am Berliner Südkreuz wird ein 18jähriger von Polizisten brutal angegriffen. Warum der junge Demonstrant zum Ziel der Beamten wird, ist nicht klar. Ohne ersichtlichen Grund wird er aus der Menge der Protestierenden herausgerissen und auf den Boden geworfen, geschlagen und getreten. Weitere Beamte rennen ihren Kollegen zur Hilfe und verstellen die Sicht.

Der in Gaza aufgewachsene junge Mann wird erst wieder sichtbar, als er – inzwischen bewusstlos und am Kopf blutend – an Armen und Beinen an den Straßenrand geschleift wird. Erst nach zwanzig Minuten werden schließlich Sanitäter durchgelassen, die den Bewusstlosen auf einer Trage abtransportieren. Eine Übersetzerin wird von der Polizei nicht zu dem geflüchteten Jugendlichen durchgelassen.

Es sind Szenen solcher Gewalt gegen Jugendliche, FLINTA¹, Schwarze und Menschen of Colour (BPOC), wie sie bereits seit Jahren auf den inzwischen verbotenen Nakba-Demonstrationen zu sehen waren und die sich jede Woche in Berlin abspielen. Faustschläge ins Gesicht, Würgegriffe und Tritte gehören fest zum Repertoire der Repression gegen Aktivistinnen und Aktivisten der Palästina-Solidaritätsbewegung. Gedeckt von einer Politik, die Solidarität mit den Menschen in Gaza als Gefahr für die deutsche Staatsräson stigmatisiert, eskaliert die Polizeigewalt.

Zwei Wochen zuvor wurde Yamid* (Name ist der Redaktion bekannt, jW), ein Jugendlicher, der vor einem Jahr ohne seine Familie aus Gaza nach Berlin geflüchtet war, bei einer Demonstration gegen die fortlaufenden Massaker in seiner Heimat so schwer von Beamten zusammengeschlagen, dass er einen epileptischen Anfall erlitt und in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste. Videos des zuckenden Körpers, der im Würgegriff eines Polizisten weggeschleift wurde, wurden auf sozialen Medien vielfach geteilt, schafften es aber nicht in die Berichterstattung einer der Berliner Tageszeitungen.

Die Fotografin Alessia, die vor sechs Jahren aus Turin nach Berlin zog und seitdem die Palästinabewegung fotografisch dokumentiert, beschreibt ihre Eindrücke: »Die Polizeigewalt ist nicht neu. Aber die Frequenz hat zugenommen, und die Gruppe, die zum Ziel der Gewalt wird, ist breiter geworden. 2021 waren es noch die muslimischen und eher traditionellen palästinensischen Demonstrationen, während es auf den Demos von ›Palästina spricht‹ relativ wenig Eskalation gab. Inzwischen werden auch Demos wie der diesjährige Dyke March brutal angegriffen. Insgesamt trifft die Gewalt weiter vor allem BPOC, queere und Trans-Personen.«

Die Anwesenheit so vieler unterschiedlicher marginalisierter Gruppen, die auch nach Monaten noch das Bild der Solidaritätsbewegung mit Palästina ausmachen, ist für ein Land bemerkenswert, in dem deutsche linke Gruppen sich auch heute noch meist durch ihre Homogenität auszeichnen und fast ausschließlich aus der weißen Mittelklasse rekrutieren.

Der Berliner Anwalt Alexander Gorski, der einige der von Repression betroffenen Aktivisten vertritt, konstatiert: »Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik wahrscheinlich noch nie eine Solidaritätsbewegung oder eine soziale Bewegung, die sich demographisch so divers zusammensetzt. Sehr migrantisch, sehr jung. Da treffen Leute aufeinander, die dem deutschen Staat per se ein Dorn im Auge sind. Auf den Demos steht der internationalistische Linke neben der jungen Muslima mit Hidschab, daneben stehen trans- und queere Aktivist*innen, und da ist der antizionistische Jude aus Israel – und alle diese Leute liebt der Staat ohnehin nicht. In Frankreich läuft das bei den Rechten unter dem Stichwort ›Islamogauche‹, also der Angst vor der Allianz linker und islamischer Gruppen.«

Polizeigewalt ausgeblendet

So ist die Diversität der Bewegung zugleich ihre Stärke und Schwäche – denn trotz monatelanger massiver Polizeigewalt hat es das Thema kaum in die Schlagzeilen der Mainstreammedien geschafft. Im Gegensatz dazu fand beispielsweise die Polizeigewalt gegen die überwiegend deutschen, studentischen Aktivistinnen und Aktivisten im Hambacher Forst in vielen Leitartikeln kritische Erwähnung.

Angesichts einer Mehrheitsgesellschaft, die zur Empathie mit Palästinenserinnen und Palästinensern auch nach zehn Monaten genozidaler Gewalt kaum fähig scheint, schaffen es Berichte israelischer Kriegsverbrechen, die global zunehmend zu Aufschreien führen, in Deutschland äußerst selten in die Schlagzeilen. Videomaterial und Zeugenberichte von schwerer sexualisierter Folter ziviler Gefangener in israelischen Militärlagern, die zuletzt nach Verbreitung durch den amerikanischen Nachrichtensender CNN sowie die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem weltweit skandalisiert wurden, fanden in deutschen Medien kaum Erwähnung.² Statt dessen werden freie Journalistinnen wie Hebh Jamal, die regelmäßig in renommierten englischsprachigen Zeitungen über antipalästinensischen Rassismus in Deutschland³ berichtet, öffentlich diffamiert.

Jüngst erschien in der Verdi-Zeitschrift Menschen Machen Medien ein Artikel, in dem eine angebliche Bedrohung deutscher Medienvertreter durch Aktivisten der Bewegung in Solidarität mit der Bevölkerung in Gaza beklagt wurde.⁴ Das »aggressive Grundrauschen« auf den Demonstrationen, das darin beschrieben wird, bezieht sich aber nicht auf die gut dokumentierte Polizeigewalt gegen Protestierende. Statt dessen beschreibt der Autor Martin Niewendick, wie Journalisten des Berliner Tagesspiegels angefeindet würden, und zieht einen Protest vor dem Axel-Springer-Gebäude durch »Antiisrael-Aktivisten« als Indiz für die Pressefeindlichkeit der Bewegung heran.

Bedenklich ist der Verdi-Artikel auch aufgrund der unkritischen Übernahme des Narratives der vermeintlich antisemitischen Grundhaltung der Bewegung. So wird inzwischen fast jeder politische Ausdruck der Solidarität mit Palästinenserinnen und Palästinensern als Antisemitismus stigmatisiert. Diese Erzählung ist inzwischen so normalisiert, dass anscheinend nicht mehr definiert werden muss, was als Antisemitismus gilt. Tatsächlich fielen deutsche Journalisten in den letzten Monaten nicht nur durch eine bemerkenswert einseitige Berichterstattung auf, sondern auch durch den Schulterschluss mit Beamten auf Demonstrationen.

Karam* (Name ist der Redaktion bekannt, jW), einer der jungen Aktivisten aus Gaza, zeigt ein Video, das dokumentiert, wie er bei einem Sit-in am Berliner Hauptbahnhof von einer etwa 50jährigen Frau geschlagen wird, die sich als Pressevertreterin ausgibt. Als er den Vorfall zur Anzeige bringen will, wird er von den Polizeibeamten vor Ort ignoriert. Statt dessen wird er in einer absurden Verkehrung des Vorgefallenen festgenommen, nachdem die angebliche Journalistin auf ihn gezeigt hat. Die Szene wirft ein Schlaglicht auf den feindseligen, antipalästinensischen hegemonialen Diskurses in einem Land, das den Schulterschluss mit dem israelischen Staat zur »Staatsräson« erklärt hat, ungeachtet der Tatsache, dass gegen Israel vor dem internationalen Gerichtshof wegen des Verdachts auf Genozid ermittelt wird und global immer mehr Staaten, von Irland über Spanien bis zu Mexiko, Kolumbien und Belgien, die von Südafrika vorgebrachte Klage unterstützen.

Bilder auf den Handys der Jugendlichen aus Gaza, von denen viele innerhalb der letzten zwei Jahre als Geflüchtete nach Berlin kamen, zeigen Viertel voller Granatapfel- und Orangenbäume und Straßenecken, an denen Nachbarinnen und Nachbarn Tee trinken. Orte, an denen heute kein Haus mehr steht und die nun einer postapokalyptischen Landschaft gleichen. Durch Straßen in Dschabalija und Khan Junis, auf denen sie morgens zur Schule fuhren, ziehen heute Trecks von Menschen, die alles verloren haben.

Bedroht und eingeschüchtert

Amjad, der seit einem knappen Jahr in Deutschland lebt und täglich um das Leben seiner Familie in Khan Junis fürchtet, berichtet: »Ich werde andauernd ohne Anlass festgenommen. An einem Tag sechsmal. Das erste Mal morgens, als ich das Geflüchtetenwohnheim verließ, um den Bus zu nehmen. Mir wurde nicht erklärt, warum. Nach einer halben Stunde wurde mir mein Ausweis wiedergegeben. Als ich auf der Sonnenallee ankam, wurde ich erneut festgenommen. Dann, als ich einen Freund im Krankenhaus besuchte. Immer mit demselben Muster. Das einzige, was mir gesagt wurde, waren zwei Worte: ›Keine Demo‹. Es gab aber keine an diesem Tag. Diese Maßnahmen sollen uns einfach fertigmachen, bis wir gar nicht mehr rausgehen«.

Als Antwort auf die Frage, ob sie das Ausmaß systematischer körperlicher und psychischer Gewalt schockiert, das der Staat gegen sie einsetzt, zuckt Issa mit den Schultern. Der junge Mann aus dem Norden Gazas erwidert nüchtern: »Wir hatten alle keine Illusion darüber, wie die Politik hier zu Israel steht, als wir kamen. Deutsche Regierungen haben immer schon versucht, uns für ihre Taten damals zahlen zu lassen. Die Gewalt gegen uns auf den Demos wird sogar stärker. Rassistische Beleidigungen sind Routine. Gestern sagte mir ein Beamter, wenn ich kein Deutsch spreche, solle ich zurück nach Gaza. Es ist scheinbar normal für einen deutschen Polizisten, jemandem zu sagen, er solle an den Ort eines laufenden Genozids zurück. Dass ich, während mein Asylverfahren endlos verschleppt wird, noch nicht mal die Schule hier besuchen darf, interessiert die nicht.«

Besonders in Neukölln, im Herzen der arabischen Community Berlins, ist Gewalt gegen die Aktivistinnen und Aktivisten alltäglich geworden. Issa zeigt mir ein Video, in dem zu sehen ist, wie er in einem Restaurant auf der Sonnenallee festgenommen wird, wo er mit Freunden zu Abend isst. Auf dem Video ist zu sehen, wie plötzlich mehrere Beamte den Tisch umringen und ein Polizist ins Essen greift. Als Issa protestiert, wird er von mehreren Beamten gepackt. Was nach der Festnahme im Mannschaftswagen passierte, legt ein medizinisches Gutachten nahe. Beamte misshandelten den 23jährigen mit Faustschlägen und Tritten gegen Kopf und Körper. Erst als sie bemerkten, dass der junge Mann kaum noch atmete, ließen sie von ihm ab, zeigten ihn jedoch wegen »Widerstands« gegen Beamte an.

Die Anzeige wegen Körperverletzung gegen die Beamten, die Issa danach aufgab, ist wenig erfolgversprechend, wie auch die Berliner Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) bestätigt, die seit 2002 Vorfälle dokumentiert⁵ und Betroffene bei den oft jahrelangen Verfahren unterstützt. »Wir sehen immer wieder, wie Beamte sich gegenseitig decken und auch bei widersprüchlichsten Aussagen meist freigesprochen werden.« Ein Zustand, der auch von Amnesty International in den letzten Jahren mehrmals kritisiert wurde.⁶

Neben den direkten Formen der Gewalt berichten fast alle Jugendlichen der Gruppe, wie sie aufgrund ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation seit dem Oktober 2023 zum Ziel von Repression wurden. Dabei bedient sich der Staat verschiedener Methoden. Bei Jugendlichen aus Gaza wurde die Bearbeitung der Visaverfahren eingestellt, mit der Begründung der »unklaren Lage« vor Ort. Zwar konnten einige der Betroffenen mit Untätigkeitsklagen gegen das Bundesamt für Migration (BAMF) eine Bearbeitung erzwingen. Aber nicht alle haben Kontakt zu einem Anwalt und die finanziellen Mittel für ein solches Verfahren. Zudem wurden in einigen Fällen bereits abgeschlossene Visaverfahren von palästinensischen Aktivisten aus Syrien auf Druck des LKA erneut aufgerollt und mehreren Personen der Aufenthaltsstatus wieder aberkannt. Auch Fälle, in denen junge Erwachsene aus Gaza mit der Begründung, sie hätten dort bereits einen »Schutzstatus«, nach Griechenland abgeschoben werden sollen, häufen sich laut Aussagen von Anwälten.

In anderen Fällen kam es zur Verschleppung von Strafverfahren gegen Aktivisten, denen dann aufgrund der gegen sie laufenden Prozesse die Visa nicht verlängert wurden, und das schon bei geringfügigen Vergehen, die maximal Geldstrafen nach sich ziehen. Zudem gibt es einige Ausweisungsverfahren, die mit dem Vorwurf der »Nähe zu terroristischen Vereinigungen« eingeleitet wurden. Als Beleg reichten angebliche Verbindungen zu Parteien wie der PLFP⁷ oder Einschätzungen des Verfassungsschutzes aus.

Es sei wichtig, das planvolle Vorgehen des Staates zu verstehen, erklärt Alexander Gorski: »Die Bundesrepublik hat viel Erfahrung im Umgang mit antagonistischen sozialen Bewegungen. Anders als in anderen europäischen Ländern werden sie hier entweder eingebunden oder zermürbt. Das sieht man bei der Klimabewegung – ein Teil wird eingebunden, ein kleiner Teil wird zermürbt. Bei der palästinasolidarischen Bewegung gibt es niemanden, den man in den Staatsapparat einbinden kann.« Um die Bewegung zu zerstören, müsse man jedoch nicht die gesamte Bewegung mit Repression überziehen. Es reiche, vor allem auf diejenigen abzuzielen, die durch ihren Aufenthaltsstatus besonders verletzlich seien.

Hier setzt die Kampagne »Palestine at the Forefront. Fighting Repression in Germany« an, die sich Anfang 2023 gegründet hat. Sie bietet politische Prozessbegleitung an, vermittelt Anwälte und organisiert Solidarität. Zudem sorgt sie für Öffentlichkeit, um auf die Repression aufmerksam zu machen, die sich insbesondere gegen Geflüchtete richtet. Zaina, eine der Gründerinnen der Kampagne, kommentiert: »Am 27. September war ein Gerichtstermin gegen einen 16jährigen aus Gaza angesetzt⁸, dem Widerstand vorgeworfen wurde. Nachdem wir zu einer Kundgebung aufgerufen hatten, wurde der Termin vom Gericht verschoben, wohl in der Hoffnung, das Verfahren ohne größere Öffentlichkeit führen zu können. Aber das ist eine Fehlkalkulation, denn wir sehen, wie ungebrochen die Solidarität mit den Betroffenen ist.«

Angesichts der massiven Repression ist der Widerstand der jungen Erwachsenen um so beeindruckender. Als ich frage, ob sie nicht eine Pause von der anhaltenden Repression bräuchten, schüttelt Karam den Kopf. »Was sind die Schläge und Tritte der Polizei im Vergleich mit der Hölle, die die Menschen in Gaza seit bald einem Jahr durchleben? Was ist der Entzug eines Aufenthaltstitels im Vergleich dazu, jede Nacht mit dem Geräusch von Bomben einzuschlafen, zu hungern, in einem Zelt schlafen zu müssen, nachdem dein Haus in Trümmer verwandelt wurde? Was sind die rassistischen Blicke der Leute in der Bahn, wenn wir zu Demos fahren, im Vergleich zu dem, was jemand fühlt, der die zerfetzten Körper seiner Kinder nur noch in Tüten begraben kann? Wir erleben Vertreibung, Krieg und Gewalt seit 76 Jahren. Ich bin 21 Jahre alt und habe sechs Kriege in Gaza erlebt. Was ist im Vergleich dazu die Gewalt durch die Polizei hier?«

Empathielosigkeit als Staatsdoktrin

Die seelischen Verletzungen, die hinter diesen Fragen stehen, lassen sich nur erahnen. Die Gespräche mit Jugendlichen aus Gaza begleitet das Gefühl, kaum ermessen zu können, wie schwer das Trauma ist, dem sie nicht nur durch die Bilder aus Gaza, den Verlust von Familienangehörigen und Freunden ausgesetzt sind, sondern auch durch einen deutschen Diskurs, in dem die Empathielosigkeit gegenüber Palästinenserinnen und Palästinenser offen zelebriert wird.

Die hier deutlich werdende Ideologie der Ungleichwertigkeit von palästinensischen Menschenleben ist nicht neu. Die Bundesrepublik, die Heimat der größten palästinensischen Community Europas, blickt auf eine lange Tradition der Repression und Verdrängung von Palästinensern zurück. Die Wissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi spricht in diesem Kontext von der Nakba⁹ als einem Kontinuum, in dem sich das Trauma der Vertreibung fortsetzt. Es werde durch die Tabuisierung der palästinensischen Leidensgeschichte in Deutschland fortgeschrieben.¹⁰ Die symbolische und retraumatisierende Gewalt gegen Palästinenser fixiere diese auf eine Position der Täter, »Terroristen« und »Antisemiten«, die als gefährliche »Wilde« für ihre Vertreibung selbst verantwortlich gemacht werden. Die Verschiebung der Verantwortung für koloniale Gewalt auf ihre Opfer ist kein Alleinstellungsmerkmal des deutschen Rassismus. Jedoch findet sie im Kontext der Inszenierung von Deutschland als geläuterte Nation statt, in der das schwere Erbe antisemitischer Täterschaft auf die Palästinenser projiziert wird. El Bulbeisi beschreibt das als »Ausdruck einer Ideologie weißer Vorherrschaft, die nicht als solche erscheinen will. Es hat eine gesellschaftliche Funktion und ermöglicht in einer Situation tiefster Verstrickung in koloniale, rassifizierende Gewalt eine Selbsterzählung von aufgearbeiteter Schuld und moralischem Gutsein.«¹¹

Welch bizarre Formen diese Verschiebung der deutschen Nazivergangenheit inzwischen angenommen hat, zeigt sich exemplarisch in Kommentaren wie dem des Deutschlandfunk Kultur-Redakteurs Sebastian Engelbrecht, der konstatiert, dass nun Deutschland selbst, als Land der »Judenfreunde« vom Antisemitismus betroffen sei.¹² So erlaubt der Diskurs den Nachfahren der Täter, sich in einer schizophren anmutenden Verdrehung der Geschichte heute selbst als Opfer zu inszenieren.

Instrument Asylpolitik

Die Repression gegen palästinensische Aktivisten erfüllt jedoch nicht nur eine ideologische Funktion, vielmehr weist sie auf gesamtgesellschaftliche Tendenzen hin, was den Umgang sowohl mit kritischen sozialen Bewegungen als auch mit Geflüchteten betrifft. Denn die In­strumentalisierung der Figur des antisemitischen Migranten soll neuen Gesetzentwürfen Legitimation verleihen, mit denen die Bundesregierung schneller und einfacher im »großen Stil« abschieben möchte.¹³ Dabei soll zukünftig bereits das Liken von Posts in sozialen Medien ausreichen, um Sympathie für »Terrortaten« zu unterstellen und darüber ein »schwerwiegendes Ausweisungsinteresse« zu begründen, ohne dass es eine strafrechtliche Verurteilung gibt. Ein Paradox in einem Land, das sich nach wie vor als Demokratie versteht.

Die Verzahnung von direkten Formen von Gewalt mit aufenthaltsrechtlicher Repression ist keinesfalls neu. So kam es nach dem Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München 1972 zu erhöhter Repression. Studenten aus Palästina, Jordanien, dem Irak, Ägypten und anderen arabischen Ländern wurden oft über Nacht abgeschoben. Damals wie heute reichten Einschätzungen des Verfassungsschutzes aus, um eine politische Bedrohung zu behaupten. Viele der Betroffenen waren in der nach 1972 verbotenen linken Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) aktiv, jedoch reichte in manchen Fällen schon das Zeigen der palästinensischen Flagge für die Ausweisung.¹⁴

Nader, der in den 1970er Jahren aus Gaza nach Westberlin kam und an der Technischen Universität Mathematik studierte, beschreibt im Rückblick ein Klima der Angst, in dem Studierende nur durch ihr Arabischsein unter Generalverdacht gestellt wurden. Ein Prozess, den die Professorin Deepa Kumar als »Terrorcraft« bezeichnet, das Einschreiben des Terrorismusverdachtes in arabische und muslimische Identitäten.¹⁵

Auch die angekündigten Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht verweisen auf den Zusammenhang zwischen Repression gegen Palästinenser und der generellen Beschneidung von Rechten geflüchteter und migrierter Menschen. Alexander Gorski schildert, wie jüngst einer syrischen Klientin in ihrem Einbürgerungsverfahren die Frage gestellt wurde, wie sie zu den »antiisraelischen Ausschreitungen« stehe. So wird die Einbürgerung an die Übernahme bestimmter politischer Haltungen geknüpft, ohne das dies als schwerer Eingriff in die Meinungsfreiheit von Menschen gewertet würde.

In diesem Sinne geschehe migrationspolitisch sowie im Kontext der Repression gegen die Solidaritätsbewegung »alles, was Palästinenser*innen in Deutschland passiert, immer auch allen«, erklärt Gorski. Entscheidend sei, wie die Bewegung es schaffe, sich langfristig solidarisch mit denjenigen zu zeigen, die der Staat nun durch aufenthaltsrechtliche Mittel zum Schweigen zu bringen versuche. Dafür brauche es einen langen Atem, da die Verfahren oft Jahre dauern. Dabei seien solidarische und nachhaltige Strukturen der Rechtshilfe für die von Repression betroffenen Aktivistinnen und Aktivisten zwar unerlässlich. Der Erfolg von Gerichtsverfahren werde aber oft überschätzt. Das betont auch die Rechtswissenschaftlerin Noura Erakat, die in ihrer Arbeit zeigt, wie in der Geschichte Palästinas Rechtsprechung nicht nur politische Fakten schuf, sondern gleichzeitig auch immer selbst ein Spiegel politischer Kräfteverhältnisse war.¹⁶ Insofern, so Gorski, sei es letztlich nicht das Urteil einer Richterin, das darüber entscheide, ob es legal sei ,»From the River to the Sea« zu rufen, sondern eine Frage des gesellschaftlichen Diskurses. Vielmehr werde es dann legal, »wenn es eine Million Menschen vor dem Brandenburger Tor rufen«.

Anmerkungen:

1 Die Abkürzung FLINTA steht für Female, Lesbian, Intersex, Trans and Agender (als Agender wird im Deutschen oft der Begriff nonbinär benutzt).

2 https://t1p.de/cnn_detention; https://t1p.de/btselem_detention

3 https://www.972mag.com/abdulnasser-samidoun-germany-palestinian-refugees; https://t1p.de/middleeasteye

4 https://mmm.verdi.de/pressefreiheit-beruf/zunehmende-bedrohung-der-presse-98745

5 https://kop-berlin.de/chronik

6 https://t1p.de/amnesty_pos; https://t1p.de/amnesty_forderungen

7 Die Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) ist eine linke palästinensische Partei, die in der EU sowie auch in Deutschland als Terrororganisation gelistet ist, was u. a. mit Flugzeugentführungen durch Mitglieder der Partei in den 1960er und 1970er Jahren begründet wird.

8 https://www.instagram.com/reel/DAGjaJDs8F2/?igsh=YXprcGRvNWNqb3Ey

9 Die Nakba beschreibt den Prozess der Vertreibung von zwei Dritteln der indigenen Bevölkerung Palästinas aus ihren Dörfern und Städten zwischen 1948 und 1950 sowie die Zerstörung von über 530 palästinensischen Dörfern.

10 Sarah El Bulbeisi: Tabu, Trauma und Identität, Bielefeld 2020, S. 189–212

11 https://geschichtedergegenwart.ch/ueber-den-schmerz-des-verschweigens-palaestinenserinnen-in-deutschland-und-in-der-schweiz

12 https://t1p.de/strike_germany

13 https://mediendienst-integration.de/artikel/im-grossen-stil-abschieben.html

14 https://www.kurt-groenewold.de/ausweisungs-und-strafverfahren-gegen-palaestinenser-hamburg

15 Deepa Kumar: Terrorcraft: empire and the making of the racialised terrorist threat. Race & Class 62 (2020), No. 2, S. 34–60

16 Noura Erakat: Justice for Some: Law and the Question of Palestine, Stanford 2019

Mariam Salameh-Puvogel ist Politologin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Postkolonialismus sowie kritische Sicherheitsforschung hinsichtlich der Beziehungen zwischen der EU und dem arabischen Raum.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche: