Nicht im Chor
Von Sabine Kebir
Jacques Baud, ehemaliger Analytiker für Osteuropa und den Warschauer Pakt beim Schweizer Auslandsgeheimdienst, dann bei verschiedenen Missionen von NATO, UNO und OSZE beschäftigt, empört sich über die Informationspolitik in westlichen Ländern zum Krieg in der Ukraine. Die größten privaten und öffentlich-rechtlichen Medien verschwiegen oder verkürzten Fakten, die zur Urteilsbildung notwendig seien. Sie träfen damit auf Gesellschaften, die sich an knappe Nachrichten im Twitter-Stil gewöhnt haben. Rückblickend fragt er: »Wer hat die Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Donbass zwischen 2014 und 2022 verurteilt? Wer hat die berichteten Massaker an Zivilisten im Donbass verurteilt?« Weiter fragt Baud, wer führende Politiker der EU kritisiert hat, die inzwischen zugaben, die Minsker Abkommen nie ernst gemeint zu haben. Und wer habe das ukrainische Gesetz von 2021 skandalisiert, das ukrainischen Bürgern je nach Herkunft unterschiedliche Rechte einräume. Wer verurteilte die Ermordung eines ukrainischen Waffenstillstandsverhandlers durch den eigenen Geheimdienst im Jahr 2022?
In dem nun ins Deutsche übersetzten Buch »Putin – Herr des Geschehens?« setzt sich Baud vor allem mit den aus amputierten Fakten gezimmerten Argumenten auseinander, die französische Medien über den Krieg verbreiten, unter anderem in einer gleichnamigen Sendung des öffentlich-rechtlichen TV-Kanals France 5. Da die einflussreichsten deutschen Medien genauso argumentieren, war es durchaus sinnvoll, dieses Buch zu übersetzen. Der Autor wird deswegen angegriffen, gestreut wird der Verdacht, er stehe in Diensten Russlands. Baud beharrt allerdings darauf, den Angriff vom Februar 2022 nicht zu befürworten. Er stimmt aber eben auch nicht in den mächtigen Chor derer ein, die das Verhalten des Westens und der nach dem Maidan-Putsch an die Macht gelangten ukrainischen Regierungen rechtfertigen. Ihm kommt es darauf an, die seiner Meinung nach irrational beeinflusste europäische Öffentlichkeit auf ihre Verantwortung für die Friedenssicherung hinzuweisen.
Baud vervollständigt die gar nicht oder nur verkürzt wiedergegebenen Nachrichten mit gut belegten Hintergrundinformationen. Handelt es sich um absichtlich amputierte Zitate, vervollständigt er sie. Das betrifft etwa die öffentlichen Verlautbarungen russischer Diplomaten und die Reden des russischen Präsidenten. Aus denen lasse sich nicht belegen, dass Russland die Vernichtung der Ukraine als Staat anstrebe. Vielmehr beanspruche es, das von der UNO vertretene Prinzip der »Responsibility to Protect« (Schutzverantwortung) anzuwenden: Wenn ein Staat die Rechte eines Teils der Bevölkerung nicht garantiert oder selbst verletzt, sind diese von anderen Staaten durchzusetzen. Darauf hat sich unter anderem die NATO bei ihren Kriegen gegen Jugoslawien und Libyen berufen.
Bauds Buch liefert auch einige Dokumente aus den vergangenen Jahrzehnten, die der Öffentlichkeit bisher vorenthalten blieben. Sie soll der Behauptung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg glauben, die NATO habe Russland nie versprochen, keine Staaten der ehemaligen sowjetischen Einflusszone in das Bündnis aufzunehmen. Da diese Zusicherung aber die Bedingung war, um Michail Gorbatschows Zustimmung zur deutschen Einheit zu erlangen, hatte der damalige NATO-Generalsekretär Manfred Wörner 1990 in Brüssel erklärt: »Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Armee jenseits des deutschen Staatsgebiets zu stationieren, gibt der Sowjetunion eine feste Sicherheitsgarantie.« Baud zeigt auch, dass eine Erweiterung der NATO nicht bedingungslos möglich ist, weil in Dokumenten der OSZE steht, dass die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden ist. Dieses Prinzip wurde schon verletzt, als die NATO und besonders die USA Waffensysteme in Osteuropa stationierten, die die Vorwarnzeiten Russlands extrem verkürzten.
Auf einige der wichtigen behandelten Themen sei hier nur hingewiesen: Baud bietet einen Überblick über die russische Militärdoktrin und fragt, wie resilient die russische Wirtschaft ist; das widerspricht dem, was britische Geheimdienste öffentlich verbreiten. Und er weist immer wieder auf Widersprüche wie den hin, dass sich diejenigen, die »den Luftschlägen gegen Libyen und im Irak Beifall spendeten«, nun wundern, wenn »Russland dasselbe tut und die ukrainische Infrastruktur zerstört. Dieselben, die den Nationalismus in Frankreich und Europa bekämpfen, feiern (bewaffnen und unterstützen) den Ultranationalismus der Ukraine.«
Mit dem Abdruck der »Münchner Charta« von 1971, einer Berufsethik für Journalisten bzw. einer Deontologie ihrer Wahrheits- und Sorgfaltspflicht, zeigt Baud, wie sich die Maßstäbe verändert haben. Der Leser findet auch den vollen Text des zweiten Minsker Abkommens und Befragungsdaten zur russischen Innenpolitik, erstellt vom Lewada-Zentrum, das in Russland als »ausländischer Agent« gelistet ist. Für manche Leser möglicherweise überraschend ist eine 51 Punkte umfassende Liste von »Maßnahmen und Aktivitäten«, die die Regierung unter Donald Trump, der in liberalen Medien oft als »Putins Freund« dargestellt wurde, »gegen Russland und dessen Interessen« auf den Weg brachte.
Jacques Baud: Putin – Herr des Geschehens? Westend, Frankfurt am Main 2023, 256 Seiten, 26 Euro
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Leserbrief von Wolfgang Schmetterer aus Graz (5. Oktober 2023 um 16:45 Uhr)Es wäre wünschenswert, wenn auch die notorischen Russland- und Putinbasher, die immer wieder ihre unsachlichen Kommentare in Leserbriefen von sich geben – leider auch in der jW –, dieses Buch aufmerksam studierten. Leider sind es meistens die ohnehin schon aufgeklärten Zeitgenossen, die sich damit befassen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (4. Oktober 2023 um 12:52 Uhr)Die Responsibility to Protect (R2P) soll nach UN-Ansicht einzig im Rahmen einer autorisierenden Resolution des UN-Sicherheitsrates wahrgenommen werden (https://www.un.org/en/genocideprevention/about-responsibility-to-protect.shtml). Eigenmächtige R2P-Abenteuer wie die NATO-Aggression gegen Serbien 1999 finden dagegen keine Unterstützung der UN. Russland rechtfertigt seine Intervention im Donbass-Krieg denn auch formal nicht mit der R2P sondern mit dem Selbstverteidigungsrecht der Donbassrepubliken, speziell mit dem Recht zu kollektiver Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 Kapitel 7 der UN-Charta. Zu diesem Zweck wurden die Donbass-Republiken von Russland anerkannt sowie ein Verteidigungsbündnis mit ihnen geschlossen. Die Hoffnung, dass damit die Kiewer Gewalt gegen die Donbass-Bevölkerung gestoppt werden könnte, war angesichts positiver Erfahrungen mit der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durchaus berechtigt. Die Gewalt ging kurzzeitig auch im Donbass tatsächlich zurück. Der westliche Wille, u.a. zwecks Stilllegung der Nord-Sream2-Pipeline und Abkopplung Deutschlands von Russland ein russisches Eingreifen zu provozieren, war indes stärker. Die so hehr vom Westen mit der Unterstützung für die Ukraine durch die Medien geschleppte Verteidigung des Völkerrechts ist natürlich realiter vollkommen nachrangig, genauso wie im Fall des Libyen-Krieges, wo es zwar eine Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Durchsetzung einer Flugverbotszone gab, deren Mandat von den westlichen Kriegsapologeten aber mit der Absetzung Gaddafis und der Bombardierung ziviler Infrastrutkur wie des man-made-river klar überschritten wurde. Mit so einer Mandatsüberschreitung bzw. so einem Verteidigungsexzess mutiert ein Defensiv-Krieg in einen Aggressionskrieg. Selbstredend ist das auch eine Frage, die sich angesichts der russischen Verteidigung der Donbass-Republiken stellt: Wie weit ist diese Verteidigung noch verhätlnismäßig und damit legitim? Wie so oft gibt es leider keine klare Antwort!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz P. aus Wien (4. Oktober 2023 um 08:40 Uhr)Ja, Baud fasst Fakten zum Ukraine-Krieg, sprich 30 jährigem NATO gegen Russland Kampf, hervorragend in seinen 3 Büchern zum Konflikt zusammen. Umfangreiche Referenzen aus »anerkannten« westlichen Zentralmedien (Washington Post, N.Y. Times, Guardian) und »oppositionellen« russischen Medien zeichnen sie aus. Und die kompletten Texte von wichtigen Dokumenten und Reden der Kriegsgegner. Auch von Präsident Putin. Damit stellen sie dem Leser, auch bei uns im Westen unleugenbare, solide »Evidenz« und tiefes Verständnis zur Verfügung. Deswegen wurde sein Ende 2022 erschienes Buch, »Operation Z«, innerhalb der international außenpolitischen Arbeitsgruppe von Diem25 (http://www.diem25.org) als Grundlagenwerk empfohlen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Klaus K. aus Stuhr (2. Oktober 2023 um 10:52 Uhr)Soeben habe ich die Lektüre des Buches beendet und bin beeindruckt von der Darstellung der aktuellen politischen Verhältnisse in und um den Konflikt zwischen dem sog. Wertewesten und dessen Widerpart im Osten, und zwar vor allem in seiner Gründlichkeit sowie der aus meiner Sicht Plausibilität seiner Argumentation Resümierend kann ich feststellen, dass es allen, die bemüht sind, sich ein umfassendes Bild der gegenwärtigen Lage im Ukrainekonflikt, unabhängig von der Mehrheitsdarstellung in den Medien, zu machen, unbedingt empfohlen werden kann.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (1. Oktober 2023 um 21:43 Uhr)Herrlich! Endlich ein Artikel, der das aufgegriffene Thema meiner Glaube an echten Journalismus bestätigt. Hut ab, Frau Sabine Kebir, mein Kompliment! Und natürlich DANKE, Junge Welt, dass ihr so etwas auch druckt.
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