»Aus der Türkei gibt es über 200 Prozent mehr Anträge«
Interview: Fabian Linder
Das Bundesinnenministerium hat jüngst die Asylzahlen für 2022 vorgestellt. Welche Trends sind erkennbar?
Wir sehen insgesamt wieder steigende Zahlen. Vergangenes Jahr sind ungefähr 193.000 neue Asylsuchende nach Deutschland eingereist. Hinzu kommen noch Kinder von Flüchtlingen, die hier geboren sind und ebenfalls in der Statistik gezählt werden – so werden dann 218.000 Asylerstanträge gezählt. Die Hälfte aller Asylsuchenden ist aus Syrien oder Afghanistan geflohen und damit aus Ländern, in denen schon seit langem Menschen von Krieg und Verfolgung bedroht sind.
Welche weiteren Faktoren machen Sie in den Fluchtbewegungen aus?
Die Asylzahlen spiegeln stets, wo es gerade kritisch wird. Das sieht man 2022 zum Beispiel an den sehr stark gestiegenen Zahlen Asylsuchender aus der Türkei – über 200 Prozent mehr Anträge wurden hier verzeichnet. In der Türkei steigt aktuell der ohnehin schon hohe Druck auf die politische Opposition und die kurdische Bewegung. In diesem Jahr wird dort gewählt, und damit wächst auch die Befürchtung, dass sich das politische Klima weiter verschärft.
Die türkische Regierung erhöhte zuletzt den Druck auf Länder wie Schweden, Kurdinnen und Kurden auszuliefern.
Erst kürzlich hat Erdogan auch Deutschland erwähnt, als es um den Schutz vermeintlicher Terroristen ging. In der Türkei kann praktisch jeder Facebook-Kommentar, mit dem die Regierung kritisiert wird, als Terrorismus gelten. Die Regierung nutzt den Begriff, um politische Gegner zu verfolgen, und dazu gehören häufig auch Personen, die sich für die kurdische Bewegung einsetzen.
Auch in Deutschland ist es sehr schwierig für kurdische Menschen, Schutz zu bekommen. Es zeigt sich ein eklatanter Unterschied: Geflüchtete, die als kurdischstämmig im Asylverfahren registriert sind, bekommen in weniger als zehn Prozent der Fälle Schutz gewährt, andere türkische Antragsteller dagegen zu 70 Prozent.
Gibt es weitere Unterschiede, die Sie in der Anwendung des Asylrechts ausmachen?
Seit letztem Jahr sehen wir besonders deutlich, wie unterschiedlich fliehende Menschen behandelt werden. Ukrainische Kriegsflüchtlinge müssen nicht mit der Wartezeit und Unsicherheit eines Asylverfahrens umgehen, sondern bekommen den sogenannten vorübergehenden Schutz direkt von der Ausländerbehörde. Sie dürfen direkt arbeiten, studieren oder privat unterkommen. Regulär Asylsuchende haben diese Möglichkeiten nicht. Sie müssen erst ins Asylverfahren; währenddessen dürfen sie nicht arbeiten und müssen in einer Sammelunterkunft wohnen. Wir fordern, dass solche ausgrenzenden Verbote und Vorschriften abgeschafft werden.
Statistisch gesehen sind die Chancen im Asylverfahren besser geworden. Die gestiegene Schutzquote ist dabei vor allem auf die Bewertung der Lage in Afghanistan zurückzuführen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, hatte hier in den Jahren zuvor sehr restriktiv und aus Sicht von Pro Asyl häufig falsch entschieden. Mit der Machtübernahme der Taliban wurden die Asylverfahren erst einmal auf Eis gelegt. Seit den wieder aufgenommenen Entscheidungen im letzten Jahr sehen wir nun eine fast hundertprozentige Schutzquote – wobei nicht alle den vollen Flüchtlingsstatus bekommen, sondern vielfach sogenannte Abschiebungsverbote.
Dagegen kritisieren Sie die starke Ablehnungsquote Geflüchteter aus dem Iran.
Es ist schockierend, dass das BAMF in seiner Entscheidungspraxis offensichtlich bislang gar nicht auf die weitreichende Unterdrückung von Protesten im Iran reagiert. Man hört bisher nur, dass sie die sogenannten Herkunftsländerleitsätze, nach denen sie ihre Entscheidung treffen, gerade überarbeiten. Das ist für die Menschen, die bisher abgelehnt wurden, aber kein Trost. Bei Afghanistan wurden immerhin Asylverfahren, die sonst abgelehnt worden wären, auf Eis gelegt. Beim Iran wundert es uns sehr, dass das Bundesamt keinen vergleichbaren Schritt geht. Es wäre dringend nötig, ablehnende Entscheidungen einzustellen und abzuwarten, wie sich die Lage entwickelt.
Wiebke Judith ist rechtspolitische Sprecherin der Menschenrechtsorganisation »Pro Asyl«
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