junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Montag, 27. März 2023, Nr. 73
Die junge Welt wird von 2701 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 21.01.2023, Seite 8 / Inland
BAMF in der Kritik

»Aus der Türkei gibt es über 200 Prozent mehr Anträge«

Asylzahlen für 2022: Mehr Menschen suchen Schutz in BRD. Geflüchtete werden ungleich behandelt. Ein Gespräch mit Wiebke Judith
Interview: Fabian Linder
imago0153863549h.jpg
Erstanlaufstelle für Asylsuchende in Berlin-Reinickendorf

Das Bundesinnenministerium hat jüngst die Asylzahlen für 2022 vorgestellt. Welche Trends sind erkennbar?

Wir sehen insgesamt wieder steigende Zahlen. Vergangenes Jahr sind ungefähr 193.000 neue Asylsuchende nach Deutschland eingereist. Hinzu kommen noch Kinder von Flüchtlingen, die hier geboren sind und ebenfalls in der Statistik gezählt werden – so werden dann 218.000 Asylerstanträge gezählt. Die Hälfte aller Asylsuchenden ist aus Syrien oder Afghanistan geflohen und damit aus Ländern, in denen schon seit langem Menschen von Krieg und Verfolgung bedroht sind.

Welche weiteren Faktoren machen Sie in den Fluchtbewegungen aus?

Die Asylzahlen spiegeln stets, wo es gerade kritisch wird. Das sieht man 2022 zum Beispiel an den sehr stark gestiegenen Zahlen Asylsuchender aus der Türkei – über 200 Prozent mehr Anträge wurden hier verzeichnet. In der Türkei steigt aktuell der ohnehin schon hohe Druck auf die politische Opposition und die kurdische Bewegung. In diesem Jahr wird dort gewählt, und damit wächst auch die Befürchtung, dass sich das politische Klima weiter verschärft.

Die türkische Regierung erhöhte zuletzt den Druck auf Länder wie Schweden, Kurdinnen und Kurden auszuliefern.

Erst kürzlich hat Erdogan auch Deutschland erwähnt, als es um den Schutz vermeintlicher Terroristen ging. In der Türkei kann praktisch jeder Facebook-Kommentar, mit dem die Regierung kritisiert wird, als Terrorismus gelten. Die Regierung nutzt den Begriff, um politische Gegner zu verfolgen, und dazu gehören häufig auch Personen, die sich für die kurdische Bewegung einsetzen.

Auch in Deutschland ist es sehr schwierig für kurdische Menschen, Schutz zu bekommen. Es zeigt sich ein eklatanter Unterschied: Geflüchtete, die als kurdischstämmig im Asylverfahren registriert sind, bekommen in weniger als zehn Prozent der Fälle Schutz gewährt, andere türkische Antragsteller dagegen zu 70 Prozent.

Gibt es weitere Unterschiede, die Sie in der Anwendung des Asylrechts ausmachen?

Seit letztem Jahr sehen wir besonders deutlich, wie unterschiedlich fliehende Menschen behandelt werden. Ukrai­nische Kriegsflüchtlinge müssen nicht mit der Wartezeit und Unsicherheit eines Asylverfahrens umgehen, sondern bekommen den sogenannten vorübergehenden Schutz direkt von der Ausländerbehörde. Sie dürfen direkt arbeiten, studieren oder privat unterkommen. Regulär Asylsuchende haben diese Möglichkeiten nicht. Sie müssen erst ins Asylverfahren; währenddessen dürfen sie nicht arbeiten und müssen in einer Sammelunterkunft wohnen. Wir fordern, dass solche ausgrenzenden Verbote und Vorschriften abgeschafft werden.

Statistisch gesehen sind die Chancen im Asylverfahren besser geworden. Die gestiegene Schutzquote ist dabei vor allem auf die Bewertung der Lage in Afghanistan zurückzuführen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, hatte hier in den Jahren zuvor sehr restriktiv und aus Sicht von Pro Asyl häufig falsch entschieden. Mit der Machtübernahme der Taliban wurden die Asylverfahren erst einmal auf Eis gelegt. Seit den wieder aufgenommenen Entscheidungen im letzten Jahr sehen wir nun eine fast hundertprozentige Schutzquote – wobei nicht alle den vollen Flüchtlingsstatus bekommen, sondern vielfach sogenannte Abschiebungsverbote.

Dagegen kritisieren Sie die starke Ablehnungsquote Geflüchteter aus dem Iran.

Es ist schockierend, dass das BAMF in seiner Entscheidungspraxis offensichtlich bislang gar nicht auf die weitreichende Unterdrückung von Protesten im Iran reagiert. Man hört bisher nur, dass sie die sogenannten Herkunftsländerleitsätze, nach denen sie ihre Entscheidung treffen, gerade überarbeiten. Das ist für die Menschen, die bisher abgelehnt wurden, aber kein Trost. Bei Afghanistan wurden immerhin Asylverfahren, die sonst abgelehnt worden wären, auf Eis gelegt. Beim Iran wundert es uns sehr, dass das Bundesamt keinen vergleichbaren Schritt geht. Es wäre dringend nötig, ablehnende Entscheidungen einzustellen und abzuwarten, wie sich die Lage entwickelt.

Wiebke Judith ist rechtspolitische Sprecherin der Menschenrechtsorganisation »Pro Asyl«

Drei Wochen kostenlos lesen

Wir sollten uns mal kennenlernen: Die Tageszeitung junge Welt berichtet anders als die meisten Medien. Sie bezieht eine aufklärerische Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, Qualität, Unterhaltsamkeit und Biss.

Testen Sie jetzt die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) kostenlos. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.

Ähnliche:

  • Es gibt auch NATO-Gegner in Schweden: Protest vor der Parteizent...
    05.12.2022

    Der Türkei ausgeliefert

    Ziel: NATO-Beitritt. Kurdischer Asylsuchender aus Schweden überstellt und inhaftiert
  • Gefahr für patriarchale Regime: Die Kämpferinnen der kurdischen ...
    25.11.2022

    Kurdinnen unter Beschuss

    Attacken in Nordostsyrien, Irak und Iran richten sich gegen feministische Bewegungen. Türkei mordet, um Widerstand zu brechen
  • Partnerschaft auf Augenhöhe? Die Kämpfer der kurdischen YPG erfr...
    13.11.2017

    Great Game

    In Syrien wie im ­gesamten Nahen Osten ringen Regional- und Großmächte um Einfluss. Die Position der USA ist dabei ­schwächer geworden

Drei Wochen lang gratis gedruckte junge Welt lesen: Das Probeabo endet automatisch, muss nicht abbestellt werden.