Billiglöhner gesucht
Von Susanne Knütter
Der Arbeitsmarkt sei »so aufnahmefähig wie seit 30 Jahren nicht mehr, und die Leute wollen arbeiten, egal, aus welchem Land sie kommen«. Im Saldo würden 400.000 zusätzliche Arbeits- und Fachkräfte im Jahr gebraucht, erklärte die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, am Dienstag im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Für ausländische Arbeitskräfte gebe es bislang aber vergleichsweise viele Hürden. »Unterbesetzte Ausländerämter«, Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Abschlüssen und die Sprachbarrieren fielen ihr dazu ein. Die Politik soll deshalb nochmal ran ans Einwanderungsgesetz für Fachkräfte und »eine Schippe drauflegen«.
Das macht die Bundesregierung nun mit den »Eckpunkten zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten«, die das Kabinett diesen Mittwoch beschließen will. Wesentliche Neuerung: Die Bundesregierung will die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt erhöhen, indem Fachkräften durch ein Punktesystem die Einwanderung nach Deutschland ermöglicht wird, auch wenn sie noch keinen Arbeitsplatz vorweisen können. Menschen mit »gutem Potential« soll demnach ein »Aufenthalt zur Suche eines Arbeitsplatzes« ermöglicht werden, heißt es in dem 23 Seiten langen Papier, aus dem am Montag abend zuerst T-online zitierte. Sie erhalten eine sogenannte Chancenkarte zur Arbeitsplatzsuche. Als Auswahlkriterien werden Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschland-Bezug und Alter genannt.
Aus Sicht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat das Punktesystem auch in klassischen Einwanderungsländern an Bedeutung verloren. »In Kanada kamen 2019 beispielsweise nur elf Prozent aller Zugewanderten (knapp 18 Prozent aller Arbeitsmigrantinnen und -migranten) über das Punktesystem.« Das wesentliche Zuzugskriterium sei aktuell eine konkrete Arbeitsplatzzusage bzw. eine berufliche Qualifikation in einem Mangelberuf, hieß es in einer Stellungnahme des IAB vom 13. Oktober.
Aus Sicht des IAB erscheint es auch allgemein wenig wahrscheinlich, dass mit der »Chancenkarte« solche Zuzugszahlen erreicht werden könnten, wie sie notwendig wären, um dem aus seiner Sicht »demographisch bedingten Rückgang des Erwerbspersonenpotentials in angemessener Weise zu begegnen«.
Größeren Stellenwert dürfte vermutlich der Ausweitung der »Westbalkanregelung« zukommen. Die Regelung war zunächst auf den Zeitraum 2016 bis Ende 2020 befristet. Aufgrund der hohen Nachfrage von Unternehmen in Deutschland nach billigen Arbeitskräften wurde die Regelung bis zum 31. Dezember 2023 verlängert. Nach Informationen von T-online will die Bundesregierung die »Westbalkanregelung« nun entfristen und die Kontingente »mindestens deutlich anheben sowie eine Ausweitung auf weitere Staaten anstreben«. Bisher erlaubt die Regelung pro Jahr 25.000 Menschen aus den Ländern des Westbalkans, bei einem verbindlichen Arbeitsangebot nach Deutschland einzureisen. Wie hoch das neue Kontingent werden soll, wie viele Staaten hinzukommen könnten und vor allem welche, ist in den Eckpunkten laut T-online noch nicht vermerkt.
Insbesondere Branchen, die für ihre schlechten Arbeitsbedingungen bekannt und immer wieder in der Kritik stehen, haben bisher von der »Westbalkanregelung« profitiert. So entfiel laut einem Evaluationsbericht des IAB aus dem Jahr 2020 mit 44 Prozent ein außergewöhnlich hoher Anteil auf das Baugewerbe, gefolgt vom Gastgewerbe (13 Prozent), dem Gesundheits- und Sozialwesen (elf Prozent) und den sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen (zehn Prozent).
Neben der oben genannten »Potentialsäule« nennt das Eckpunktepapier auch noch die »Fachkräftesäule« und die »Erfahrungssäule«. So soll künftig etwa eine »anerkannte Qualifikation grundsätzlich zu jeder qualifizierten Beschäftigung in nichtreglementierten Berufen berechtigen«. Und unter bestimmten Voraussetzungen sollen Qualifizierte auch ohne formale Anerkennung ihres Abschlusses zum Arbeiten einwandern dürfen. In nichtreglementierten Berufen soll etwa eine »zweijährige nachgewiesene Berufserfahrung in dem Beruf« ausreichen, sofern irgendein Berufs- oder Hochschulabschluss vorliegt.
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