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Aus: Ausgabe vom 29.11.2022, Seite 1 / Inland

Lindner lehnt Vermögenssteuer ab

Berlin. Bundesfinanzminister Christian Lindner hat Steuererhöhungen eine klare Absage erteilt und will ab 2024 das gesamtstaatliche Defizit wieder verringern. Der FDP-Chef sagte am Montag bei einem Steuerforum des Zentralverbands des Deutschen Handwerks in Berlin: »Wir sind in der Vorweihnachtszeit: Fürchtet euch nicht. Mit dieser Koalition und diesem Bundesfinanzminister wird es keine Steuererhöhungen geben.« Lindner bezog sich auf Äußerungen sowie die Forderung der »Wirtschaftsweisen«, dass Spitzenverdiener stärker zur Kasse gebeten werden sollen, um die Lasten der Energiekrise gerechter zu verteilen. Der Minister warb im Gegenteil für eine große »Unternehmenssteuerreform«, auch wenn es dafür derzeit keine politischen Mehrheiten gebe. Deutschland sei im internationalen Vergleich ein Höchststeuerland, behauptete der FDP-Mann. (dpa/jW)

  • Leserbrief von Bernhard May aus Solingen (5. Dezember 2022 um 12:22 Uhr)
    »Fürchtet euch nicht«? Ich fürchte mich aber, Herr Lindner: zum Beispiel vor zu niedrigen ÖPNV-Mitteln, die die notwendige und populäre Verkehrswende unnötig verzögern – und über deren Erhöhung sich 2021 alle (!) Bundesländer einig waren, darunter sogar noch zwei mehr »Exoten« mit FDP-Regierungsbeteiligung (NRW und Schleswig-Holstein). Ich fürchte mich auch vor dem weiterhin zu langsamen Ausbau der »regenerativen« Energien, wofür Fridays for Future bereits im vierten Jahr schön friedlich demonstriert, und etwas ungeduldigere Aktivist:innen zuweilen auch nicht mehr ganz so brav. Ich fürchte mich vor schlechter personeller Ausstattung öffentlicher Kliniken und Pflegedienste, Kitas und Schulen. Ich fürchte mich vor weiterer Zunahme des Obdachlosen-Elends, vor Wohnungsnot vor allem im bezahlbaren Segment. Ich fürchte mich vor allen Mängeln, deren Behebung wir uns als Staat und Gesellschaft leisten könnten und sollten. »Ich bin zu arm, um mir einen armen Staat leisten zu können«, las ich vor 20 Jahren auf einer Sozial-Demonstration.
    Klassische »Hochsteuerländer« sahen wir seit Jahrzehnten vor allem in nördlicher Richtung: Dänemark, Norwegen, Schweden. Seltsam, dass gerade diese den Eindruck eher wohlgeordneter und »stressarmer« Gemeinwesen machten oder noch machen. Eine relativ hohe Staatsquote erzielte aber auch noch die hiesige Kohl-Republik trotz Kohls ewigem Juniorpartner FDP. Den »Soli« zahlten wir doch alle gern oder zumindest loyal, selbst wenn er von der FDP mit beschlossen worden war. Die Anständigen unter den Millionären fordern schon 20 Jahre lang, endlich wieder »Vermögen(s)steuer« zahlen zu dürfen. Im Programm der Linken zur Landtagswahl 2017 in NRW fand diese erfreuliche Tatsache noch an prominenter Stelle Erwähnung. Der Volksmund weiß schon seit Jahrhunderten: »Wer nichts erheirat’t und nichts ererbt, bleibt ein armer Mann, bis er sterbt.« Heiraten und erben als »Leistung«? Oder ist es bei der FDP mit dem angeblich »liberalen« Leistungsprinzip doch nicht so weit her?
    Selbst das bedingungslose Grundeinkommen (BGE), das natürlich ein erhebliches Umverteilungsvolumen erfordert, war 1980 einmal eine FDP-Idee, die allerdings bereits »Bürgergeld« hieß wie aktuell dieser nicht armutsfeste und nicht teilhabegerechte Hartz-Verschnitt, den wir natürlich auch weiterhin nach dem VW-Zuhälter benennen werden.
    Der FDP-Traum vom steuer-»freien« Nichtstaat liefe hingegen allenfalls im Vulgärverständnis auf eine Wirtschafts-»Anarchie« hinaus, real auf Anomie, und wird übrigens vom Grundgesetz mit dem Sozialstaatlichkeitsgebot ausgeschlossen. Eine Anomie wäre nicht nur nicht überlebensfähig, sie braucht vor allem auch keinen Finanzminister mehr – selbst wenn sich der nicht so dreist als Faulpelz aufführte wie Lindner. Ich hingegen brauche noch oder wieder einen Finanzminister, der seine Aufgaben kennt – also bitte keinen Christian Wolfgang Lindner mehr und auch sonst keinen ausgerechnet von der FDP.