»Alle wissen, dass es für Frauen zuwenig Angebote gibt«
Interview: Gitta Düperthal
Der gemeinnützige Verein Rosa e. V. hat sich 2021 gegründet und bietet eine mobile Anlaufstelle für Frauen auf der Flucht, einen sogenannten Rolling Safespace. Was heißt das in der Praxis?
Seit März dieses Jahres sind die Aktivistinnen unseres Vereins mit einem Lkw in Griechenland unterwegs, in dem es eine Teeküche gibt. Wir fahren drei Geflüchtetenlager nördlich von Athen an, um dort jeweils einen sicheren Rückzugsort für Frauen einzurichten. In den Unterkünften Ritsona, Malakasa und Oinofyta leben insgesamt mehrere tausend Menschen, darunter viele Frauen. Wenn wir mit dem Lkw vor Ort sind, bauen wir um ihn herum einen Sichtschutz mit Planen, Pavillons und Zelten, damit ein geschützter und von der Straße aus nicht einsehbarer Raum entsteht. Dort gibt es medizinische Beratung von einer Ärztin oder einer Hebamme; zum Beispiel Informationen zur Brustkrebsvorsorge oder zur Schwangerschaft. Veranstaltet werden Sportworkshops, es geht um Empowerment durch gemeinsame Bewegung oder das Erlernen von Selbstverteidigung. Unser Ansatz ist Hilfe zur Selbsthilfe. Wir bieten den Frauen einen Ort, wo sie auch selber Workshops anbieten können. Ihre Kinder werden betreut, damit sie auch mal unter sich sein können.
Wie viele Ehrenamtliche machen mit?
Unterwegs ist stets eine Crew mit zwischen sieben und neun Personen. Abgesehen vom medizinischen Personal sind das eine Übersetzerin, zwei Kinderbetreuerinnen sowie weitere freiwillige Helferinnen, die sich um Workshops und Koordination kümmern. Für die Crew haben wir in Griechenland ein Haus angemietet, in dem die Frauen zusammenwohnen.
Welche Ziele hat Ihr Verein?
In der Notsituation wollen wir das Selbstbestimmungsrecht der Frauen stärken. Durch ihre Erfahrungen auf der Flucht erleben sie oft große Belastungen, etwa Bedrohungen in Notunterkünften. Toiletten und Duschräume dort sind häufig nicht nach Geschlechtern getrennt. Es gibt an diesen Orten meist keine Infrastruktur, die Gewalt gegen Frauen entgegenwirkt. Zudem mangelt es an Hygieneprodukten, etwa Windeln und Menstruationsartikeln oder Kondomen. Im Grunde wäre es nicht unsere Aufgabe, das zu lösen. Es ist eine politische Aufgabe auf EU-Ebene, für geschützte Räume für Frauen zu sorgen. Dafür setzen wir uns auch ein.
Wie kam es zur Idee, dieses Projekt zu gründen?
Mit einer Freundin zusammen habe ich bei einem Projekt in einer Geflüchtetenunterkunft im Libanon mitgewirkt. Dort fiel uns auf, dass es für Kinder Angebote gibt, Sprachkurse oft von Männern wahrgenommen werden. Die Frauen wirkten ziemlich vereinzelt. Wir gaben dort in einem kleinen Raum Sportkurse, machten das Handy mit Musik an, begannen mit Sportübungen. Wir haben gemerkt, wie wenig es braucht, um miteinander Spaß zu haben. Die Frauen konnten ihre Kopftücher ausziehen, waren unter sich. Alle wissen, dass es für Frauen in den Unterkünften zuwenig Angebote gibt. Medizinerinnen und Mediziner von »Ärzte ohne Grenzen« bestätigten uns, dass sie nur eine Akutversorgung machen können. Für die in der Fluchtsituation stark belasteten Frauen fehle es aber an allem.
Welche Vorerfahrungen bringt die Crew mit?
Einige von uns sind aus dem aktivistischen antirassistischen Umfeld; manche haben ein Medizin- oder Jurastudium absolviert; andere sind Hebammen, Sozialarbeiterinnen, Ingenieurinnen oder studieren Soziologie. Die unterschiedlichen Perspektiven tun dem Projekt gut. Wir beginnen jetzt zudem, in einigen deutschen Städten Lokalgruppen zu gründen: in Berlin, Leipzig, Hamburg, Göttingen und Münster. Einige der Geflüchteten, die in Griechenland selber Workshops angeboten haben, sind inzwischen in Deutschland. Die Gruppen setzen unterschiedliche Schwerpunkte, engagieren sich politisch, leisten Bildungs- und Kulturarbeit.
Wie finanziert sich der Verein?
Bislang ist unsere Arbeit von Spenden getragen. Verschiedene aktivistische Gruppen machen Veranstaltungen, um Geld für uns zu sammeln. Wir haben als Verein Mitglieder und Fördermitglieder. So fordern wir, dass die Unterstützung geflüchteter Frauen künftig als staatliche Aufgabe angesehen und auch so finanziert wird.
Sophie Müller-Bahlke ist Gründungsmitglied von Rosa e. V.
rolling-safespace.org
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