Seouls Polizei in Erklärungsnot
Von Martin Weiser, Seoul
Eine Polizeieinheit traf erst 85 Minuten nach Ausbruch der Massenpanik in Seoul ein. Dies teilte die Polizei am Sonntag mit. Am 29. Oktober war es im Stadtzentrum der südkoreanischen Hauptstadt zu einem der schlimmsten Unglücke in der Geschichte des Landes gekommen. Bei der jährlichen Halloweenfeier im Ortsteil Itaewon starben 156 Menschen und 196 wurden leicht bis schwer verletzt. Zur Todesfalle wurde eine schmale, abschüssige Seitengasse, die einen höher gelegenen Bereich des beliebten Ausgehviertels auf kürzestem Weg mit der U-Bahn-Station unten an der Hauptstraße verbindet. Es war das erste Halloween in drei Jahren ohne Sperrstunde und Coronabeschränkungen und bereits ab dem frühen Abend waren die Wege so voll, dass die Leute Schulter an Schulter standen und sich kaum noch bewegen konnten. Geschätzt 130.000 waren an diesem Tag in Itaewon unterwegs, das auch vor der Pandemie für den großen Andrang berüchtigt war.
Wenige Minuten nach 22 Uhr stürzten Menschen dann in dieser Seitengasse durch den Druck der Massen oben im Ausgehviertel und wurden unter Hunderten nachkommenden Leuten begraben. Es gelang kaum jemanden, sich aus dem Menschenberg herauszuwinden und bei vielen konnte am Ende nur noch der Herzstillstand festgestellt werden. Manche waren erstickt, bevor sie befreit werden konnten. Hunderte leisteten auf dem Bürgersteig erste Hilfe, und versuchten verzweifelt, mit Herzdruckmassagen Menschen zu retten.
Der erste Notruf wegen der Massenpanik ging um 22.15 Uhr ein. Laut der am Sonntag veröffentlichten Daten der Seouler Polizeibehörde traf die erste Polizeieinheit um 23.40 Uhr in Itaewon ein, vier weitere wurden hinzugerufen, die letzte erreichte den Unglücksort demnach erst um 1.14 Uhr.
Schnell war klar, dass weder im Bezirk noch bei Stadt oder Landesregierung irgendein Sicherheitsplan existierte, um die erwartbaren Menschenmengen in sichere Bahnen zu lenken. In vorherigen Jahren hatte man eben diese Seitengasse abends sogar abgesperrt. Es war nicht daran gedacht worden, den Ausgang der U-Bahn-Station zu sperren, um Druck von diesem sensiblen Punkt zu nehmen. Bereits kurz nach sechs waren die ersten Notrufe bei der Polizei eingegangen. Mehrmals wurde sie aufgefordert, ein solches Unglück zu verhindern. Vier Stunden lang hatte sie Zeit gehabt, Verstärkung anzufordern und die Sicherheit der Feiernden sicherzustellen. Aber nichts davon geschah.
Zwei Tage nach dem Unglück hatte der Innenminister noch erklärt, auch entsprechende Polizeipräsenz hätte es nicht verhindern können. Aber das Versagen von Polizei und allen Regierungsebenen bis zum Präsidenten wird jeden Tag deutlicher. Die absurden Ausreden können nicht darüber hinwegtäuschen. Man hatte sogar darauf verwiesen, dass »rein rechtlich« nur Veranstaltungen mit einem Organisator ein Sicherheitskonzept bräuchten. Bei einem freien Zusammenkommen von Individuen wie zu Halloween seien den Sicherheitsbehörden die Hände gebunden.
Es zeichnet sich bereits ab, dass der Polizeichef des Bezirks Yongsan eine Demonstration gegen die Regierung für wichtiger hielt, als die jungen Menschen in Itaewon zu schützen. Etwa 160 Polizisten wurden für die Halloweenfeier abgestellt und nur mit Drogenfahndung und Verhinderung von anderen Delikten beauftragt. Die friedliche Demonstration, die jeden Samstag bis vor den Amtssitz des Präsidenten zieht, wurde dagegen von 6.500 Einsatzkräften begleitet. Der Amtssitz ist nur zwei Kilometer von Itaewon entfernt. Die verzweifelte Bitte eines Polizisten – Stunden vor dem Unglück – Verstärkung zu schicken, wurde mit Verweis auf die Demonstration verweigert. Als sich die Kundgebung um neun auflöste, wurde den Polizisten noch eine Pause fürs Abendessen gewährt, statt sie sofort nach Itaewon zu beordern.
Die anscheinende Überforderung des Polizeichefs von Yongsan wirft eine weitere wichtige Frage auf. Präsident Yoon Suk Yeol setzte im Mai gegen starken Widerstand durch, dass sein Amtssitz vom abgeschirmten Blauen Haus im Norden ins Stadtzentrum verlegt wird. Dass die Polizei von Yongsan dann nicht nur die Sicherheit in Itaewon gewährleisten muss, sondern auch bei regierungskritischen Demonstrationen, wurde anscheinend bisher nicht berücksichtigt.
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