Berliner Armutszeugnis
Von Marc Bebenroth
Es war »absehbar« und »vermeidbar«: Zu diesem Ergebnis kommt die »Expertenkommission Wahlen in Berlin« in ihrem am Mittwoch veröffentlichten Abschlussbericht. Ohne die Ursachen präzise analysieren zu können, nennt der Bericht die gravierendsten Gründe für das Behördenversagen vom 26. September 2021, das zu quälend langen Warteschlangen vor den Wahllokalen führte, denen teils zu wenige oder gar die falschen Wahlunterlagen geliefert worden waren.
Die Verantwortlichen auf den unteren Ebenen seien mit der »Mammutaufgabe« überfordert gewesen, die sich aus der Verbindung von den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen, zum Abgeordnetenhaus und zum Bundestag sowie der Volksabstimmung zur Enteignung großer privater Immobiliengesellschaften – »unter Pandemiebedingungen und einem gleichzeitig stattfindenden Stadtmarathon« – ergeben habe. Senat und Abgeordnetenhaus haben die Landeswahlleitung und die Bezirke »weitgehend allein gelassen«, heißt es mit Blick auf Personal-, Ressourcen- und Finanzausstattung.
Die Stimmzettelprobleme seien schon vor dem Wahltag bekanntgewesen. Die Landeswahlleitung habe den Auftrag »auf zwei unterschiedliche Lose verteilt«, den Zuschlag aber einer einzigen Druckerei erteilt. Die schiere Menge an benötigten Unterlagen habe diese »bis an den Rand der Überforderung ausgelastet«. Die Auslieferung der Stimmzettel in die Bezirke wiederum sei zum Teil »erst sehr knapp vor Beginn der Briefwahlkampagne am 15. August 2021« erfolgt. Die Kommission empfiehlt, »externe Logistikexperten« stärker einzubeziehen.
Weitaus gravierender war dem Bericht zufolge die Wahlordnung. Die sehe vor, dass Wahlvorständen einen Tag vor dem Wahltermin alle Stimmzettel ausgehändigt werden, damit sie diese – meist von zuhause – am nächsten Tag eigenhändig ins Wahllokal bringen. Die Masse an Unterlagen habe es in einzelnen Bezirken erforderlich gemacht, dass sich Wahlvorstände mit Rollkoffern ausrüsten. Die hätten nur einen Teil der Stimmzettel gefasst. Auch deshalb sei es zum Mangel an Wahlscheinen gekommen. Die Kommission empfiehlt, an Wahlvorstände künftig »ein vollständig ausgestattetes Wahllokal« zu übergeben – inklusive ausreichend Wahlkabinen, an denen es ebenfalls vielerorts gemangelt habe. Die Wahlleitungen hätten sich dabei fatalerweise »auf pauschalierte Erfahrungswerte verlassen«.
Die Kommission empfiehlt ausdrücklich, Großereignisse wie den Berlin-Marathon in Zukunft nicht mehr an einem Wahltag zuzulassen. Außerdem seien »Aufgaben- und Rollenbeschreibungen der einzelnen Akteure« zu klären und eindeutiger zu regeln. Insgesamt bedürften Wahlen und Abstimmungen in Berlin »dringend einer höheren Standardisierung«. Den »bisher hier bestehenden ›Flickenteppich‹ gilt es zu beseitigen.« Dazu solle man weniger geizen. »Finanzielle und personelle Mittel sind im Vorfeld von Wahlen vorrangig für diese einzusetzen.«
Der Senat setze »alles daran, gründlich die Lehren aus der Aufarbeitung der aufgetretenen Probleme zu ziehen«, behauptete Innensenatorin Iris Spranger (SPD) in einer Mitteilung. Auch werde »bald« über die Neubesetzung der Landeswahlleitung entschieden. Diese wird noch immer von der Stellvertreterin Ulrike Rockmann geführt, seit Petra Michaelis am 29. September ihr Amt in Folge des Wahldebakels räumte.
Bundeswahlleiter Georg Thiel hatte bei einer Anhörung im Bundestag am 24. Mai eine Wiederholung der Bundestagswahl im Land Berlin für unumgänglich gehalten und von »komplettem systematischen Versagen der Wahlorganisation« gesprochen. Sollte es zu einer Wiederholung kommen, droht vor allem der Fraktion Die Linke ein Verlust wichtiger Direktmandate. Dank derer konnte sie trotz Scheiterns an der Fünfprozenthürde in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen.
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