Schutzlos ausgeliefert
Von Emre Şahin
Um 2023 als Präsident der Türkei wiedergewählt werden zu können, lässt Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan nichts unversucht – allerdings mit mäßigem Erfolg. Zwar werden Oppositionelle im Land bereits rigoros unterdrückt, und die türkische Armee versucht derzeit, den gewünschten außenpolitischen »Erfolg« im Kampf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu erringen, doch die Wirtschaftskrise mit einer Inflationsrate von 60 Prozent ist weiter nicht unter Kontrolle – so weit, so bekannt. Am Dienstag erklärte der Staatschef seinen nächsten Plan: Mehr als eine Million syrische Geflüchtete in der Türkei sollen in ihre Heimat zurückgeschickt werden.
Das Vorhaben sei »ziemlich ausgereift«, sagte Erdogan per Videobotschaft anlässlich der Einweihung Tausender Blockhäuser in der nordwestsyrischen Idlib, einer oppositionellen Hochburg, die unter Kontrolle von Dschihadisten steht, als deren Schutzmacht Ankara fungiert. Aber auch in die nordsyrischen Provinzen Asas, Al-Bab, Dscharabulus und Ras Al-Ain (Sere Kaniye) sollen künftig Syrerinnen und Syrer deportiert werden. Diese Gebiete hatte die Türkei 2016 bzw. im Oktober 2019 u.a. von den mehrheitlich kurdisch-arabischen »Demokratischen Kräften Syriens« (SDK) erobert und hält sie seitdem besetzt. Laut Erdogan seien bereits 500.000 Geflüchtete »freiwillig« in diese Gebiete zurückgekehrt.
Die Maßnahmen zielen darauf ab, die Demographie der Region zu verändern, um die nord- und westkurdischen Gebiete zwischen der Türkei und Syrien mittels eines »arabischen Gürtels« zu trennen. Erdogan behauptete am Dienstag, die Türkei sei den Geflüchteten weder »wie die Europäer« mit Rassismus begegnet noch habe sie es auf die »natürlichen Reichtümer« des Nachbarlandes abgesehen. Dabei ist bekannt, dass Ankara der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« Öl abgekauft hat und die in Afrin beschlagnahmte Olivenölindustrie – seit 2018 von der Türkei besetzt – die heimischen Produzenten getroffen hat.
Auch dürfte die Umsiedlungsaktion – entgegen Erdogans Verlautbarungen – vor allem rassistischen Motiven geschuldet sein: Im Zuge der Wirtschaftskrise hat sich die Stimmung gegenüber syrischen Geflüchteten in der Türkei extrem verschärft, fast wöchentlich kommt es zu Übergriffen, zuletzt am 1. Mai in Adana. Im Januar attackierten türkische Faschisten in Istanbul nachts eine von Syrern bewohnte Unterkunft und töteten dabei den 19jährigen Nail Al-Naif mit einem Messer. Schwerwiegend waren auch im vergangenen Sommer die großen Ausschreitungen in Ankara, als Dutzende Geschäfte und Häuser von Syrern tagelang von einem Mob angegriffen wurden. Zum islamischen »Fest des Fastenbrechens« verbot das türkische Innenministerium am Montag den Menschen, die nach Syrien gereist waren, um den Tag mit ihren Verwandten zu begehen, die Wiedereinreise ins Land und zwingt sie, dort zu bleiben. Innenminister Süleyman Soylu nennt die 3,7 Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei lediglich »temporäre Flüchtlinge«.
Wer glaubt, die Schutzsuchenden könnte es nicht schlimmer treffen, irrt. Die größte türkische Oppositionspartei, die kemalistische CHP, ist für einen noch offener rassistischen Umgang mit den Syrern bekannt: In der von der CHP regierten Stadt Bolu müssen nichttürkische Staatsbürger seit vergangenem Jahr den zehnfachen Preis für Wasser oder zivile Trauungen zahlen. Wenig überraschend in diesem Kontext die Aussagen des CHP-Chefs Kemal Kilicdaroglu vom Dienstag. Nach Erdogans Ankündigung, eine Million Syrer zurückzuschicken, twitterte Kilicdaroglu, dass sich seine Partei in zwei Jahren nach den Wahlen um den »Rest« kümmern werde.
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