Propaganda für den Westen
Von Dmitri Kowalewitsch, Kiew
Mitte April liegt in Kiew der Duft von Aprikosenblüten in der Luft. Doch anders als in den vergangenen Jahren ist da jetzt auch Unruhe, Angst ist in den Augen älterer Menschen zu lesen, aber junge Paare treffen sich trotz des Regens auf Parkbänken. Es sind deutlich weniger Menschen auf den Straßen – viele sind evakuiert. Infolgedessen herrscht in Kiew ein akuter Mangel an Arbeitskräften, die die Infrastruktur der Stadt instand halten. Manchmal scheint es, als ginge das Leben wie gewohnt weiter, bis man auf »Panzerabwehrigel« und bewaffnete Männer trifft, die Passanten misstrauisch beäugen. Einige Zivilisten werden aufgefordert, ihre Telefone vorzuzeigen. Ihre Anruflisten werden überprüft, um festzustellen, ob es russische Kontakte gibt und ob die Person Angebote in sozialen Netzwerken abonniert hat, die als »prorussisch« gelten.
Alle ukrainischen Medien schreiben über die Tragödie in Butscha, zahlreiche westliche Reporter waren dorthin eingeladen worden. In der ukrainischen Gesellschaft hingegen wird die Tragödie praktisch nicht diskutiert. Jeden Tag sterben Militärs und Zivilisten, was leider zu einer trivialen Routine geworden ist. Die Ukrainer werden täglich mit so vielen unglaublichen Horrorgeschichten bombardiert, dass viele psychisch eine Blockade angesichts des Informationsflusses entwickeln. Die Präsentation von »Nachrichten« im Informationskrieg zielt einzig und allein darauf, hier und jetzt einen Ekeleffekt zu erzeugen. Man erzählt uns, dass die Russen die Zivilbevölkerung ausrauben und sogar T-Shirts und Kinderspielzeug mitnehmen. Die ukrainische Propaganda behauptet, dies geschehe, weil alle Russen angeblich extrem arm seien. Dabei ist die Ukraine nach der Republik Moldau das ärmste Land auf dem europäischen Kontinent.
Unsere Propaganda sagt, dass die Russen angeblich alle Gefangenen erschießen. Und dann wird berichtet, dass sie die gefangenen Nationalgardisten aus den Außenbezirken von Kiew mitgenommen haben. Der ukrainische Sicherheitsdienst (SBU) verbreitet die Information, dass die Russen alle Frauen und Kinder vergewaltigen. Dem SBU zufolge unterstützen russische Ehefrauen angeblich sogar ihre Männer bei Vergewaltigungen in der Ukraine und fordern sie dazu auf. Mit solchen Behauptungen werden wir täglich bombardiert, denn es kommt nicht auf die Qualität, sondern auf die Quantität an. Vor allem die russischen Einwohner sollen sich das Feindbild aneignen.
Der SBU veröffentlicht angeblich abgehörte Telefongespräche zwischen russischen Soldaten und ihren Angehörigen. Demnach fragen sie nach der Kleider- oder Schuhgröße der Kinder, um etwas zu erbeuten. Seit 2019 ist es russischen Militärangehörigen jedoch verboten, Mobiltelefone im Dienst mitzuführen – dabei geht es um Geheimhaltung. Außerdem haben die ukrainischen Mobilfunkbetreiber Anfang März die Telefonverbindungen mit Russland gekappt. Jetzt können selbst Ukrainer ihre dort lebenden Verwandten nicht mehr anrufen.
Ukrainische Fernsehsender berichten über die unglaubliche Geschichte, dass der ukrainische Soldat Wladimir Gordienko von den Russen angeschossen wurde, eine Kugel traf ihn direkt ins Herz, aber er starb nicht und lief noch zwei Tage lang durch den Wald, bis man ihn fand. Nachdem ihm die Kugel aus dem Herzen entfernt worden war, stand er am nächsten Tag wieder auf. Unter den Ukrainern gibt es nur wenige, die auf solche offensichtlichen Fälschungen hereinfallen, aber diese Informationen richten sich nicht so sehr an sie, sondern an das westliche Publikum, das wenig über die Realitäten in der Ukraine und die engen Beziehungen der Ukrainer zu den Russen weiß. Die westlichen Medien greifen die Fälschungen des SBU völlig unkritisch auf und entmenschlichen die Russen, wie es in der Vergangenheit mit allen Völkern oder Gruppen von Menschen geschah, mit denen die führenden Länder des Westens in Konflikt gerieten.
Ukrainische Medien, auch wenn sie gegen die russische Invasion sind, aber kritische Kommentare über die Kiewer Regierung zulassen, werden in das neu geschaffene Register der Staatsverräter aufgenommen, in dem bereits viele Journalisten aufgeführt sind. Vor kurzem wurde der Wirtschafts- und Energieexperte Dmitri Marunitsch verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, bereits vor dem russischen Einmarsch Interviews gegeben und unter anderem mit russischen Medien zum Thema Energiekrise zusammengearbeitet zu haben. Der Journalist Gleb Ljaschtschenko wurde verhaftet, da er verdächtigt wird, Facebook-Posts veröffentlicht zu haben, in denen er auch die ukrainische Führung für den laufenden Krieg verantwortlich macht. Das gilt als Verbreitung »kremlfreundlicher Narrative« und wird mit Verrat gleichgesetzt.
Das Ziel all dieser Aktionen und der militärischen Propaganda ist die Vereinheitlichung des Informationsangebots. Dennoch muss man anerkennen, dass die meisten Ukrainer bereits eine Immunität gegen diese »Informationen« entwickelt haben. In Kiew kann man fast nirgendwo mehr von normalen Menschen hören, die über die verbreiteten Aufnahmen von angeblich von den Russen begangenen Greueltaten diskutieren. Diejenigen, die in der Stadt geblieben sind, machen sich immer noch Sorgen um ihre wirtschaftlichen Probleme, und verliebte Paare treffen sich trotz des Luftangriffsalarms immer noch in Parks und Gassen.
Dmitri Kowalewitsch ist ukrainischer Journalist und Mitglied der marxistischen Organisation »Borotba«
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Leserbrief von Conny aus Neustadt an der Orla (16. April 2022 um 10:39 Uhr)Es ist einfach unglaublich, wie wir durch die einseitige Berichterstattung unserer Medien belogen werden. Ich suchte Infos und fand sie. Ich lese seit Beginn des Krieges eure Zeitung, da ich die Hasspropaganda nicht mehr ertragen habe. Im Herzen habe ich anders gedacht und glaubte, ich bin allein damit. Aber durch euch weiß ich, dass da noch ein Widerstand gegen Hochrüstung und all die schrecklichen Auswüchse und Irrtümer in der westlichen Welt vorhanden ist. Ich danke euch für die Hintergrundinformationen, die notwendige Aufklärung. Macht weiter so.
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