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Aus: Ausgabe vom 14.05.2016, Seite 11 / Feuilleton

Wo sonst, könnte man denken

Archiv, Cinéphilie, politischer Versuch: Am Dienstag endeten die 62. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen
Von Peer Schmitt
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Keine Ruhe vor dem Sturm, Star-Power: »Der Tag vor dem Ende« von Lav Diaz

Das Bild, das wir uns gewöhnlich von der Stadt machen, sieht ungefähr so aus: Häuser, wirtschaftliche Privaträume, umgeben einen Marktplatz, einen politischen öffentlichen Raum, und darüber, auf einem Hügel, steht ein Tempel, ein theoretischer Sakralraum. (…) Sehen wir uns das Bild an. Es ist als Modell nicht mehr zu gebrauchen. Die drei Stadträume greifen jetzt wie ›Fuzzy sets‹ ineinander. Der öffentliche Raum dringt in den privaten dank Kabel (wie im Falle des Fernsehens). Der Privatraum dringt in den öffentlichen dank Apparaten (wie Autos). Es gibt in der Stadt nichts tatsächlich Öffentliches und tatsächlich Privates mehr. Und der theoretische Raum (…) ist nicht mehr an Kirche und Schule gebunden, sondern an Sportplatz, Diskothek und Club Méditerrané. Diese Siedlungen stehen dem ehemals Ökonomischen und ehemals Politischen offen. Das hergebrachte Stadtbild mit seinen drei Räumen kann ad acta ­gelegt werden.«

Vilém Flusser, 1988

Auf den 62. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen fiel mir das Todesurteil für das historische/mythologische Stadtbild wieder ein, das Vilém Flusser, wie viele andere auch, vor Jahrzehnten verkündete. Bei einer der spektakulärsten Wiederentdeckungen des Festivals handelte es sich um die lange verschollene Brasilia-Doku des Cinema Novo-Helden Joaquim Pedro de Andrade: »Brasilia, Contradições de uma Cidade Nova – Widersprüche einer neuen Stadt« (1967). Das ganze 60er-Jahre-Pathos von Mondlandung bis neuem Menschen in neuer Stadt kann natürlich nirgendwo anders enden als an der Peripherie, beim Biertrinken in den Elendsquartieren mit den Arbeitern und Prostituierten, die die große Planung, wie immer, auszubaden haben.

Flusser hatte den maßgeblichen Brasilia-Architekten Oscar Niemeyer gekannt und seinerzeit auch einiges über das Projekt geschrieben, dass diese Stadt »übermenschlich menschenverachtend« sei, mithin »ein Kunstwerk«, die »Mondstadt der Zukunft«, an deren Rändern sich aber die verleugnete Cidade Livre, die freie Stadt gebildet hatte, ein »Wildwest« aus Bordellen und Tanzlokalen.

Andrades Dokumentarfilm wurde von der Firma Olivetti in Auftrag gegeben, wohl zur Feier der totalen Zukunftsplanung. Diese wollte damit sehr schnell nichts mehr zu tun haben, und so verschwand der Film zum Schutz vor politischer Zensur in den Archiven des Museums für Moderne Kunst, wo man ihn vor einigen Jahren wiederfand. In Oberhausen wurde er im Rahmen eines »Die Stadtmaschine« genannten Programms gezeigt, das, kuratiert von dem argentinischen Filmhistoriker Federico Windhausen, Teil eines »El Pueblo« getauften und »der Suche nach einem neuen Lateinamerika« gewidmeten Schwerpunkts war.

So kritisch man das längst dem Verfall preisgegebene Projekt Brasilia auch sehen mag, so sehnsuchtsvoll ist vielleicht der Blick auf einen eben doch sehr großen und damit zwangsläufig widerspruchsvollen Plan, der immerhin über Parkplatzsorgen und Shopping Mall weit hinausging. Die Anmutung dieses 35-Millimeter-Films mit MBP-Soundtrack (Música Popular Brasileira) ist inzwischen maximal museal cinéphil, obwohl seine Kontextualisierung im Programm primär politisch gedacht war. Und damit hat man die gegenwärtige Oberhausener Mischung schon beisammen: Archiv, Cinéphilie, politischer Versuch. Das alles, dank der eigenen marginalen Lage gut nachvollziehbar, mit einem durchaus polemischen Unterton. Stellenweise auch offen aggressiv wie etwa im Geleitwort zum Programmheft von Festivalleiter Lars Henrik Gass gegen öffentliche Rundfunkanstalten und andere Verweser der Kultur.

Wo sonst als in Oberhausen, könnte man denken, wo die soziale Realität in Form des »Centro« allen unmittelbar vor Augen liegt. Europas größtes Einkaufs- und Freizeitzentrum mit seinen Parkplätzen, Shopping-Mall-Musical-Theatern, Aquarien und Coca-Cola-Brunnen menschenfeindlicher als jedes Brasilia. In der Ausgehmeile der äußeren Kreise dieser Hölle befinden sich in säuberlicher Reihe unzählige Lokale, die nur unter Einfluss sehr starker Betäubungsmittel überhaupt betretbar sind. Dort wird den Verdammten bereits jetzt, in stets atemloser Nacht, sehr unmissverständlich die kommende Fußball-EM eingepeitscht, um noch dem letzten Nichtverdammten zu beweisen, dass auch Fußball den Charme des Karnevalesken weitgehend eingebüßt hat. Was freilich nicht bedeutet, dass zumindest die männliche Bevölkerung der Stadt im Bus, beim Friseur oder in der Trinkhalle über irgend etwas anderes reden würde als Fußball. Jedenfalls nicht über die Kurzfilmtage, die ihr Revier mit violetten Bannern unübersehbar im anachronistischen Fußgängerzonen-Stadtzentrum abgesteckt hatten, ohne die Stadtbevölkerung damit von den Bacchanalien des in unmittelbarer Nachbarschaft stattfindenden Winterfestes ablenken zu können.

Den Hauptpreis der Internationalen Jury gewann ein Film über die Nacht vor einer Katastrophe (indirekt auch eine Verbeugung vor der guten alten Star-Power): »Ang araw bago ang wakas (The day before the end)« von Lav Diaz, dessen 16-Stunden-Epos über die philippinische Revolution ich auf der Berlinale im Februar zu zwei Dritteln gesehen hatte. Weil er alte Formen wie die Abenteuergeschichte, die lyrische Deklamation usw. als überformt, überdeterminiert, vorführt, auch tatsächlich mit Genuss. In Oberhausen beließ es Diaz bei gut 16 Minuten, projizierte eine verheerende Sturmflut in die Zukunft und warnte davor mit Shakespeare-Schulbuchtexten, beide Varianten der Klage/Anklage: der Hamlet-Monolog, die sarkastische Grabrede von Mark Anton aus »Julius Caesar«, die von den Protagonisten jeweils eingeübt, gestottert, übersetzt werden. Keine Ruhe vor dem Sturm, Star-Power.

Der Hauptpreis der Stadt Oberhausen wiederum ging an einen Film, der einen Rest von Privatheit in einem öffentlichen Haus dokumentierte. »Venusia« von Louise Carrin. Ein Bordell in Genf, die Besitzerin und ihre Lieblingsangestellte sitzen im Ruheraum, rauchen Zigarren und gehen immer wieder nicht an Tür und Telefon, wenn es klingelt. Auch sie ziehen es offensichtlich vor, etwas nicht zu tun (Besuchen Sie sie zum Lob der Faulheit: www.venusia.ch).

Den Preis der internationalen Filmkritik gewann ein Film über das für Filmfestivals und -kritik, wie gesagt, allerwichtigste: das Museum, »If It was« von Laure Prouvost. Er besteht vollständig aus Witzen nach dem Muster »Wenn das mein Museum wäre … dürften die Besucher Titten auf die Bilder krakeln, das sieht besser aus und lockt mehr Leute an.« Die – ziemlich lustige – Polemik richtet sich dabei sowohl an die hehre Institution an sich als auch speziell an deren Reformer, die mehr Eventcharakter und ähnliches einfordern. Da ist weder Stillstand noch Fortschritt. »The future of the past is still the past«. Genau.

Mein Lieblingsfilm versteckte sich im NRW-Wettbewerb und bestand ebenfalls ausschließlich aus Witzen. Der Gegenstand der Witze: umfassend. Die Infamie der Politdiskurswüste Deutschland. »A Company in Greece« von Eva Egge ist eine Fakedoku über angebliche Migranten, die in den 60ern aus dem verkommenen Deutschland ins prosperierende Griechenland auswanderten, um dort fleißige »Gastarbeiter« zu werden. In deren Lamento über die sprichwörtliche Faulheit ihrer deutschen Landsleute ist nicht zuletzt von verwahrlosten Weinschluckern aus dem Kaiserstuhl die Rede. Und auch das traf – neben der gekonnten rhetorischen Inversion rechtspopulistischer Klischees – angesichts des Endzeitszenarios auf dem Oberhausener Winzerfest voll ins Schwarze.

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