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Aus: Ausgabe vom 30.12.2015, Seite 10 / Feuilleton

Auf dem Olymp am Flügel

Wie die sowjetische Pianistin Marija Judina die Impromptus von Schubert einspielte
Von Stefan Siegert
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Ginge es nach den Plattenfirmen, dürften nur Neuerscheinungen besprochen werden. Der Markt verlangt immer neue Umsatzwellen, und da sind alte CDs nun mal wie alte Menschen: Sie bringen kaum etwas ein, verursachen nur Lagerkosten.

Die Leute kaufen ohnehin auch in der Klassik immer weniger physische Tonträger. Das kostenlose Downloaden beklagt die Industrie als Diebstahl. Darüber, was sie den Kreativen beim Kauf der Verwertungsrechte stiehlt, redet sie nicht. Mit den inzwischen recht gut genutzten Streaming-Diensten verdient sie durch Ausbeutung. Künstler erhalten nach Recherchen des Hessischen Rundfunks für jeden Stream eines Songs oder Sinfoniesatzes 0,02 Euro.

Da fühle ich mich moralisch berechtigt, auf die nette App »4K Youtube to mp3« hinzuweisen. Mit ihr lassen sich viele alte Aufnahmen – aber auch etliche neuere – ohne große Umstände und ganz ohne Kosten auf I-Tunes oder vergleichbare Plattformen herunterladen und damit dem Genuss unmittelbar zugänglich machen. Eine besondere Empfehlung wäre die Pianistin Marija Judina (1899–1970). Nicht nur, weil sie nicht mehr geschädigt werden kann. Sie verbrachte ihr gesamtes Berufsleben in der Sowjetunion. Dort war ihre außergewöhnliche Klavierkunst bestens aufgehoben.

Höre ich sie, wird mir deutlich, wie weichgespült, weichzeichnend, ja weicheiernd heute vielfach Klavier gespielt wird. Keine Frage: Man spielt kultiviert, technisch makellos wie nie zuvor, ästhetisch sensibel und sicher auch sehr schön. Ein von der Kritik derzeit besonders hoch Geschätzter wie der junge Deutschrusse Igor Lewit etwa macht ganz gewiss nichts falsch, er macht sogar bis auf die letzte Note alles sehr richtig. Er beunruhigt niemanden, erfreut aber alle durch Luxus, so etwas verkauft sich gut. Und das nicht erst nach 40 Jahren Schattendasein, wie bei einem der großen Eckigen, dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der die Kraft hatte, durchzuhalten bis zum Durchbruch. Lewit verkauft von Anfang an.

Wenn Judina Franz Schuberts Impromptus op. 90 und op. 142 spielt, setzt sie sich aus, geht ein Risiko ein, wagt etwas Großartiges: Sie lässt uns hören, welche Riesenkämpfe der kleine dicke Schubert ausfechten musste gegen eine kalte, gewalttätige Welt. Mit welch gewaltiger Anstrengung und nimmermüdem Genie er sich mittels seiner Musik gegen diese Welt wappnete, wie in jedem Moment gefährdet er sich dabei fühlte und wie göttlich stark, wenn ihm zu Bewusstsein kam, was er der Menschheit (und sich selbst) da zu schenken fähig war.

Judina riskiert den Unmut der Spießer und Gleichmäßigen, denen diese Impromptus als Inbegriff von Eleganz, Grandezza und was sonst noch sie bestätigen und begeistern mag, ans Herz gewachsen sind. Sie zeigt, wie der fast unbekannte Schubert sich mit seinen exklusiven Mitteln im ideellen und programmatischen Kielwasser Beethovens wusste – auch er ein Olympier und Prometheus. Judina füllt das dynamische Potential des Flügels kraftvoll und abwechslungsreich aus, bezieht den Bass mit großer Sicherheit in die Dramaturgie nicht nur der Akkorde, sondern auch der Melodielinie ein. Man muss gehört haben, wie sie es schafft, aus dem von ihr martialisch inszenierten Tutti-Toben der Triolen Schuberts unendlich zart und lyrisch das Thema heraufkommen zu lassen oder über der Mittelstimmen und Bass zum Wogen bringenden linken den majestätisch herrlichen Gesang der rechten Hand schweben zu lassen.

Judina studierte beim gleichen Lehrer wie Horowitz und hat ihr Publikum neben dem klassisch-romantischen Repertoire auch mit Strawinsky, Schostakowitsch, Hindemith oder Honegger begeistert. Sie trat früh der orthodoxen Kirche bei und soll Stalin, der ihre Kunst sehr schätzte, nach einem Konzert einmal durch die gutgemeinte Versicherung irritiert haben, sie werde für seine Seele beten.

Schubert: Impromptus D.889 und D.935:

kurzlink.de/impromptu_D889

kurzlink.de/Impromptu_D935

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