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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Antifaschismus: Bis zum zweiten Tod vom 09.04.2021:

Überzeugend und wegweisend

In seinem Buch »Hitler war kein Betriebsunfall« deckt Emil Carlebach die bis heute in der BRD als »Wahrheit« offiziell verbreitete Geschichtslüge auf, Hitler sei »legal« an die Macht gekommen. Als Lehrerin an der Bad Homburger Humboldt-Schule hatte ich 1994 den Autor als Zeitzeugen eingeladen. Er sprach über seine Zeit im Konzentrationslager Buchenwald, vor allem über die Rolle der Kommunisten, der ersten Inhaftierten in den Lagern, und über deren dort von ihnen organisierten Widerstand. Er selbst war als Blockältester in Buchenwald ständig in Lebensgefahr, bis zur Selbstbefreiung des Lagers durch die Häftlinge am 11. April 1945, kurz vor dem Eintreffen der US-Truppen. Wer das Standardwerk von Bruno Apitz »Nackt unter Wölfen« gelesen und/oder die Defa-Verfilmung gesehen hat, dem steht als lebhaftes Bild vor Augen, wie damals die Häftlinge mit ihren lange versteckten Waffen die SS-Schergen auf ihren Wachttürmen erledigten. Diese todesmutige Tat zu dokumentieren, die in der BRD bis heute verschwiegen oder geleugnet wird, lag Carlebach stets am Herzen. Nach dem Krieg war Carlebach Stadtverordneter in Frankfurt am Main und Landtagsabgeordneter der KPD. Er war Mitbegründer der Frankfurter Rundschau und deren Chefredakteur, bis er auf Drängen der amerikanischen Besatzungsbehörde (Befehl von General Lucius Clay) dieses Amtes enthoben wurde. Er wurde einfach »rausgeschmissen«, weil er Kommunist war. Carlebach war als überzeugter Antifaschist auch Mitbegründer der VVN. Er blieb bis zu seinem Tod am 9. April 2001 Kommunist und Widerstandskämpfer. Am Schluss seines Buches heißt es: »Sagen wir es deutlich: Jawohl, Deutschland braucht nicht nur demokratische Aufklärung und Erziehung, sondern gleichzeitig einen verordneten Antifaschismus, wenn nicht ein zweites 1933 über uns kommen soll.« Nach Carlebachs eindrucksvollem Vortrag vor meinen Schülern mit anschließender lebhafter Diskussion erschien am nächsten Tag in der Taunus-Zeitung (Neue Presse) die Leserzuschrift eines empörten Ritterkreuzträgers, der mir den Vorwurf machte, einen »Kommunisten« in die Schule eingeladen zu haben. Jahre später, als Carlebach im jüdischen Altersheim in Frankfurt lebte und ich ihn angesichts der immer bedrohlicheren Ost-West-Konfrontation um Rat fragte, gab er die lapidare Antwort: »Du weißt doch, wo wir leben.« Dem ist, glaube ich, besonders heute, nichts hinzuzufügen.
Eva Ruppert, Bad Homburg

Kommentar jW:

Zu diesem Leserbrief schrieb Hans Schoenefeldt:

In ihrem schönen Leserbrief erinnert sich Eva Ruppert an ihre Begegnung mit Emil Carlebach, der in seinen letzten Jahren in einem jüdischen Altersheim lebte. Eva Ruppert sprach ihn auf ihre Sorge um die immer bedrohlicher werdenden Ost-West-Konfrontation an und bat um Rat. Emil Carlebachs Antwort: »Du weißt doch, wo wir leben.« Dieser lapidare Satz war für mich wie ein Sprungbrett zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das am selben Tag den Berliner Mietendeckel vom Tisch gewischt hat. Die fast geschlossene Phalanx der »Qualitätsmedien« spricht von einem »Debakel für den ›rot-rot-grünen‹ Senat«. Keiner traute sich aus der Deckung und sagte, dass es ein Debakel für den Staat in seiner angemaßten gesamtstaatlichen Für- und Vorsorgeinstitution war. Andernfalls hätten eindeutige Fakten über die explodierenden Mieten im Stadtstaat Berlin in ihrem Urteil Resonanz finden können. Deshalb war auch es kein Debakel, es war der Rechtsstaat in seiner nackten Gestalt als Erfüllungsgehilfe seiner Klientel – oder sollte man nicht besser sagen: im Auftrag seiner Majestät, der Immobilienlobby? In der Tat: Wir wissen, wo wir leben! Oder sollten es zumindest wissen. Jenseits aller formaljuristischen Auslegungen weiß ich als Nichtjurist, dass Karlsruhe auch ein ganz anderes Urteil hätte fällen können. Allzuoft wurde die Justiz in der Geschichte der BRD nach 1945 zur »dritten Gewaltlosigkeit« herabgestuft (KPD-Verbot, Berufsverbote, Aushebelung des Rückwirkungsverbots, Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr etc.). In all diesen Fällen wurden juristische Bedenken dem übergeordneten politischen Willen untergeordnet, der das letzte in juristische Formulierungen gekleidete Wort besaß. Kann man es prägnanter sagen als Tucholsky mit diesem Satz: »Politik kann man in diesem Land definieren als die Durchsetzung wirtschaftliche Interessen mit Hilfe der Gesetzgebung«? Nun wissen wir aber, wo wir leben. Deshalb kommt die Linke nicht um eine Vergangenheitsbewältigung herum, bevor sie hoffen darf, ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen zu können. Sie war als Koalitionspartner daran beteiligt, als in den nuller Jahren die Stadt »teils billig und perspektivlos verramscht« (Tomasz Kurianowicz in der Berliner Zeitung, 18.4.2021) und den Immobilienhaien in den Rachen geworfen wurde. Wie heißt es? Jeder hat eine zweite Chance verdient. Jetzt wäre der geeignete Zeitraum da, um reinen Tisch zu machen. Erst dann kann Die Linke wieder glaubhaft in die wohnungspolitische Offensive starten. Allerdings setzt dies einen Schub an Erkenntnisgewinn voraus. Der Rechtsphilosoph Hermann Klenner schrieb: »Das Recht ist nicht Willkür der herrschenden Klasse, sondern deren normierter Wille. Mag auch dessen Gesamtinhalt die ökonomisch bedingte Macht/Ohnmacht-Struktur der Gesellschaft widerspiegeln, in seiner konkreten, notwendigerweise widersprüchlichen Gestaltung ist der jeweilige Regelungsgehalt des Rechts das Ergebnis von Klassenkämpfen.« Das letzte Wort sollte die Partei Die Linke wieder in ihren Grundwortschatz aufnehmen.

Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.04.2021.