Leserbrief zum Artikel Antifaschismus: Bis zum zweiten Tod
vom 09.04.2021:
Überzeugend und wegweisend
Kommentar jW:
Zu diesem Leserbrief schrieb Hans Schoenefeldt:
In ihrem schönen Leserbrief erinnert sich Eva Ruppert an ihre Begegnung mit Emil Carlebach, der in seinen letzten Jahren in einem jüdischen Altersheim lebte. Eva Ruppert sprach ihn auf ihre Sorge um die immer bedrohlicher werdenden Ost-West-Konfrontation an und bat um Rat. Emil Carlebachs Antwort: »Du weißt doch, wo wir leben.« Dieser lapidare Satz war für mich wie ein Sprungbrett zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das am selben Tag den Berliner Mietendeckel vom Tisch gewischt hat. Die fast geschlossene Phalanx der »Qualitätsmedien« spricht von einem »Debakel für den ›rot-rot-grünen‹ Senat«. Keiner traute sich aus der Deckung und sagte, dass es ein Debakel für den Staat in seiner angemaßten gesamtstaatlichen Für- und Vorsorgeinstitution war. Andernfalls hätten eindeutige Fakten über die explodierenden Mieten im Stadtstaat Berlin in ihrem Urteil Resonanz finden können. Deshalb war auch es kein Debakel, es war der Rechtsstaat in seiner nackten Gestalt als Erfüllungsgehilfe seiner Klientel – oder sollte man nicht besser sagen: im Auftrag seiner Majestät, der Immobilienlobby? In der Tat: Wir wissen, wo wir leben! Oder sollten es zumindest wissen. Jenseits aller formaljuristischen Auslegungen weiß ich als Nichtjurist, dass Karlsruhe auch ein ganz anderes Urteil hätte fällen können. Allzuoft wurde die Justiz in der Geschichte der BRD nach 1945 zur »dritten Gewaltlosigkeit« herabgestuft (KPD-Verbot, Berufsverbote, Aushebelung des Rückwirkungsverbots, Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr etc.). In all diesen Fällen wurden juristische Bedenken dem übergeordneten politischen Willen untergeordnet, der das letzte in juristische Formulierungen gekleidete Wort besaß. Kann man es prägnanter sagen als Tucholsky mit diesem Satz: »Politik kann man in diesem Land definieren als die Durchsetzung wirtschaftliche Interessen mit Hilfe der Gesetzgebung«? Nun wissen wir aber, wo wir leben. Deshalb kommt die Linke nicht um eine Vergangenheitsbewältigung herum, bevor sie hoffen darf, ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen zu können. Sie war als Koalitionspartner daran beteiligt, als in den nuller Jahren die Stadt »teils billig und perspektivlos verramscht« (Tomasz Kurianowicz in der Berliner Zeitung, 18.4.2021) und den Immobilienhaien in den Rachen geworfen wurde. Wie heißt es? Jeder hat eine zweite Chance verdient. Jetzt wäre der geeignete Zeitraum da, um reinen Tisch zu machen. Erst dann kann Die Linke wieder glaubhaft in die wohnungspolitische Offensive starten. Allerdings setzt dies einen Schub an Erkenntnisgewinn voraus. Der Rechtsphilosoph Hermann Klenner schrieb: »Das Recht ist nicht Willkür der herrschenden Klasse, sondern deren normierter Wille. Mag auch dessen Gesamtinhalt die ökonomisch bedingte Macht/Ohnmacht-Struktur der Gesellschaft widerspiegeln, in seiner konkreten, notwendigerweise widersprüchlichen Gestaltung ist der jeweilige Regelungsgehalt des Rechts das Ergebnis von Klassenkämpfen.« Das letzte Wort sollte die Partei Die Linke wieder in ihren Grundwortschatz aufnehmen.