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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Kommentar: Auf Privatisierungskurs vom 26.03.2021:

Weiter Weg für Bahn

Dass die Grünen im Dezember das »Trennungsmodell« wieder aufwärmten, lässt stutzen. Bevor die »Bankenkrise« die Bahn-Verramschung einstweilen vereitelte, favorisierten sie wie die GDL auch schon dieses Modell; aber dürfen wir bei beiden optimistisch den Willen zur Energie- und Verkehrswende unterstellen, so fällt das bei der Union ziemlich schwer und verbietet sich bei der FDP leider ganz: Die »Schwarz-Gelben« waren seinerzeit ebenfalls für das »Trennungsmodell«. Ähnlich unklar war auf der anderen Seite die DGB-Gewerkschaft Transnet, heute EVG, für das »Integrationsmodell«, doch waren dafür auch – mit widersprüchlichen Zielen – der SPD-Mainstream und nicht zuletzt der Luftfahrt-»Manager« Hartmut Mehdorn, dem wohl niemand einen positiven Bezug zur Bahn nachsagen wird. Es fiel auf, dass GDL und Transnet/EVG nicht gemeinsam und massiv gegen jede Art der Verramschung Position bezogen – wer auch immer als Überregierung oder Heuschreckenlobby den von Ralf Wurzbacher bereits wieder befürchteten »Handlungsdruck« hatte herbeireden lassen, Privatisierung in irgendeiner Form müsse aus anderen als rein ideologischen Gründen sein.
Da die Bahn-»Reform« (1993/94) unter anderem auch die Regionalisierung des Schienennahverkehrs und dessen Ausstattung mit Bundesmitteln umfasste, lässt sich zugunsten der Grünen mutmaßen, es könnte ihnen Analoges vorschweben: Dann müsste die EU dem Bund jede Menge »Großregionalisierungsmittel« rüberrücken, die dieser für Schienenfernverkehr aufwenden müsste, für den er sich dann »Verkehrsunternehmen« (VU) suchen könnte: darunter unter anderem die DB. Natürlich dürften die VU dann keinerlei Fahrplantakte, Preise oder Verkaufskanäle mehr autonom bestimmen, sowenig sie das im Ländernahverkehr dürfen. Der »Wettbewerb« bezöge sich nur auf vom Bund bestellte und bezahlte Leistungen, könnte also keine Verwirrung stiften – und doch den »Wettbewerbs«-Affen ihren Zucker geben.
Außer »Trennungs«- und »Integrations«-Modell gab es damals drittens das Volksaktienmodell, das der SPD-Ökologe Hermann Scheer in die Debatte geworfen hatte. Viertens wäre von Interesse, wie südlich des Hochrheins die SBB als spezialgesetzliche AG des öffentlichen Rechts blühen und gedeihen. Fünftens bis zehntens traue ich »Bahn für alle« und allen übrigen bahn- und umweltbezogenen NRO vom VCD bis zum BUND durchaus zu, dass sie sich außer den mehr oder minder gefährlichen und den zwei positiven auch noch einige weitere positive Bahn-Modelle ausdenken.
Was es dazu braucht: ein Bahn-Moratorium für zwei bis drei Legislaturperioden. Das liegt durch die Pandemiewirren förmlich auf der Hand: Wie soll, zum Vergleich, Luxemburg evaluieren können, wie sich der landesweite Nulltarif ohne Pandemieeffekte auswirkt? Wie sollen wir diesseits der Grenze wissen, ob sich über 20 Jahre Fahrgastzuwachs im ÖPNV nach der Pandemie bruchlos fortsetzen, eventuell noch steiler ansteigen? Werden wir überhaupt die Bahn-»Reform« 1993/94 ernsthaft unabhängig evaluieren lassen? (Bei Ralf Wurzbacher klingt das Problem in der »überraschend« präsentierten Rekordverschuldung an, mit der die DB AG zeit ihres Bestehens ihre Vorläufer locker übertroffen hatte.) Vor allem aber: Wenn außer zwei unseriösen (»Trennung«/»Integration«) auch noch acht seriöse (»Volksaktie«, »spezialgesetzliche AG« und sechs weitere, ökosozial orientierte, die noch zu erstellen sind) sinnfällig in ihren erwartbaren Auswirkungen antizipiert werden sollen, dann braucht das sehr viel Zeit, sehr viel Sorgfalt und sehr kompetente Mitsprache!
Grüne wie Gewerkschaften mögen also ein Bahn-Moratorium bewirken, während dessen nichts mit heißer Nadel gestrickt wird. Mit dem »Deutschlandtakt«, der Renaissance von transeuropäischen Verkehren und von Nachtzügen hat durchaus auch die real existierende DB AG in ihrem unklaren Schwebezustand (im Fall der Nachtzüge eher mit ÖBB-Hilfe) positive Projekte. Selbst »Großprojekte« sehe ich nicht durchweg schädlich: Schnellfahrstrecken Mannheim–Frankfurt am Main–Fulda, Bielefeld–Hannover, Ulm–Augsburg und Dresden–Prag schaffen auch zusätzliche Kapazitäten. Aber: Zum europaweit integrierten Fahrplan haben wir es noch weit, zur Bezahlbarkeit für Durchschnittsmenschen (bei gleichzeitiger Flugverteuerung) ebenso.
Bernhard May, Solingen
Veröffentlicht in der jungen Welt am 02.04.2021.