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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Vorstellung von Gemeinnützigkeit: »Geht an der Intention des Grundgesetzes vorbei« vom 27.02.2021:

Gesellschaftskritik dient der Allgemeinheit!

Der Bundesfinanzhof hat den vom Gesetzgeber eingeräumten Interpretationsspielraum bei der Definition der Gemeinnützigkeit in voller Gänze ausgekostet. Nachdem es die Politik bislang versäumt hat, das Prädikat abseits der sperrigen Formulierungen aus der Abgabenordnung (AO) mit Leben zu füllen, traf es nun das politische Wirken von ATTAC, welches die Richter offenbar nicht als unterstützenswürdig ansahen und die steuerlichen Vorteile für die Organisation und ihre Spender kassierten. Seit langem ist die Aufzählung derjenigen Zwecke, von denen eine Körperschaft mindestens einen verfolgen muss, um in den Genuss einer Freistellung zu kommen, nach vorherrschender Meinung zahlreicher Experten nicht vollständig. Während es Vereine und Organisationen, die kirchliche und soziale Ziele verfolgen, in aller Regel deutlich leichter haben, die begehrenswerte Anerkennung durch das Finanzamt zu erhalten, ist es für Körperschaften mit politischem Einsatz deutlich schwieriger, den Staat von ihrer Gemeinnützigkeit zu überzeugen. Obwohl in der einschlägigen Verordnung die Förderung des demokratischen Staatswesens ganz eindeutig als entsprechender Zweck zur Erlangung von Steuererleichterungen genannt ist, tut sich die Rechtsprechung offenbar schwer mit einer Auslegung dieses Paragraphen. Immerhin hatte die untere Instanz dem Verein zunächst seine Gemeinnützigkeit bescheinigt, wurde dann aber durch die höchstrichterliche Entscheidung zur Abänderung seines Urteils gezwungen. Schlussendlich fehlt es an einer breiten Debatte, ob wir Meinungsvielfalt als unerlässlichen Bestandteil unserer freiheitlichen Grundordnung entsprechend wertschätzen wollen. Der Ball liegt schon seit längerem beim Parlament, das sich nur zögerlich einer Konkretisierung des geltenden Gemeinnützigkeitsbegriffs nährt. Nein, den obersten Richtern will ich nicht vorwerfen, dass sie sich von Vorurteilen haben leiten lassen, die gegenüber der Arbeit von ATTAC immer wieder vorgebracht werden. Sie haben das Ansinnen des Gesetzgebers umgesetzt, der sich mit einer Weitung der engen Grenzen der AO zugunsten politischer Aktivität anscheinend nicht anfreunden will. Gerade deshalb muss die Frage erlaubt sein, ob Kapitalismuskritik kein legitimer Beitrag zur Demokratieentwicklung in Deutschland ist. Der oft vorgebrachte Vorwurf, man vertrete damit eine parteiische Position und verlasse damit die unabhängige politische Willensbildung im Sinne der Abgabenordnung, dürfte zu kurz greifen. Schließlich vermag niemand objektiv einzuordnen, ob Globalisierungskritik einer bestimmten weltanschaulichen Couleur entspringt. Dass wohl die Christdemokraten besonders damit haderten, die bestehenden Gesetze zu ändern, könnte auch damit zusammenhängen, dass man von Seiten der Union die aus ihrer Sicht als linksgerichtete Denke anzusehende Skepsis an einer neoliberalen Grundeinstellung nicht noch steuerlich fördern will. Es darf aus meiner Perspektive allerdings nicht sein, dass Zweifel an einer herrschenden Gesellschaftsordnung als verfassungsrechtlich geschützte Meinungsfreiheit dem Willen einzelner Kräfte nachgestellt werden. Wer den offenen Dialog über die Schwächen, Grenzen und Auswüchse von kapitalistischer Vorherrschaft nicht als der Allgemeinheit dienlich zu betrachten weiß, verkennt das Recht zur Partizipation einer Bürgergesellschaft, das bereits die Väter der Bundesrepublik formuliert haben. Die steuerliche Benachteiligung von politischer Arbeit, die zur Aufklärung und Willensbildung beiträgt, kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie im Zweifel auch bemängelnde Worte für bestehende Zustände zutage führen könnte. Unser Grundgesetz schützt nämlich auch jene Haltungen, die sich dialektisch mit dem geltenden System befassen. Daher wäre es ein Signal für ein tolerantes und offenes Gemeinwesen, wenn der Staat und die Justiz den Mut zum differenzierten Blick würdigen und ATTAC mit seinen vielen Anhängern nicht länger als interessen- und klientelgeleitete Minderheit ohne Tragweite für den politischen Meinungsbildungsprozess ansehen würde. Entsprechend käme es einem Armutszeugnis gleich, wenn die Koalitionäre einer Entscheidung aus Karlsruhe nicht aktiv vorgreifen würden.
Dennis Riehle, Konstanz