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Leserbrief zum Artikel Geschichte Spaniens: Letzter Sieg vom 13.02.2021:

Fatale Befriedungspolitik

Karl Marx schrieb in der New Yorker Daily Tribune am 9. September 1854 sehr treffend über die Situation in Spanien, über den »Dauercharakter« der zu diesem Zeitpunkt andauernden spanischen Revolution. Er listet als Londoner Korrespondent auf, dass die erste Revolution im Neunzehnten Jahrhundert von 1808 bis 1814, die zweite Revolution von 1820 bis 1823 und die Dritte von 1834 bis 1843 andauerte.
Keine dieser Revolutionen wurde mit der Errichtung einer bürgerlichen Demokratie beendet. Das schwankende Bürgertum kooperierte am Ende immer wieder mit der Monarchie und den gutsherrschaftllichen Strukturen.
Die Revolution 1931 wurde erfolgreich in die bürgerlich demokratische Revolution hinübergeführt. Die Bourbonen mussten das Land verlassen. Die Zustände waren damals katastrophal. In den Minengebieten der Region um den Río Tinto betrug die Lebenserwartung durchschnittlich 36 bis 38 Jahre, und die Kindersterblichkeit war entsprechend. Verursacht wurde das durch eine extreme Umweltverschmutzung.
Im April 1931 fanden die ersten demokratischen Wahlen statt. Die Republikaner kamen auf 48,8 Prozent. In Madrid übertrafen die Stimmen für die Republikaner die Monarchisten um das Dreifache und in Barcelona sogar um das Vierfache. Und das, obwohl nach Artikel 29 der Wahlordnung in den dörflichen Gemeinden die Mandate durch die Bürgermeister ohne Wahl vergeben wurden, was den Monarchisten zugute kam. Franco wurde als Militärminister ernannt.
In den Reformjahren von 1931 bis 1933 sollte die Eigentumsfrage auf dem Lande geregelt werden. 1932 wurde das Agrarstatut beschlossen. Und im Jahr 1932 erhielten das Baskenland, Katalonien und Galicien Autonomie.
Allerdings, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, spitzten sich die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit auch in Spanien dramatisch zu. Die Bodenreform wurde nur halbherzig in Angriff genommen, sogar in erheblichen Teilen sabotiert. In den ländlichen Gegenden terrorisierten die Falangisten die Bevölkerung. Es kam erneut zu Aufständen und Massenstreiks, die zum Teil brutal niedergeschlagen worden. 1935/1936 waren mehr als 30.000 Arbeiter und Gewerkschafter eingekerkert. Es kam zu einer Regierungskrise, was am 16. Februar 1936 zu Neuwahlen führte. The Times berichtete, dass es während dieser Wahlen zu keinerlei Beanstandungen kam.
Es war die sogenannte Befriedungspolitik des Englands der Clivedenclique mit Chamberlain als Präsident und dem Frankreich der 200 Familien unter Daladier. Die US-amerikanischen Imperialisten förderten das. Die Aggressionsgelüste der deutschen und italienischen Imperialisten sollten so befriedigt werden, um sich selbst vor einer Aggression zu schützen. Die Aggression der faschistischen Mächte sollte nach Osten, speziell gegen die UdSSR, gelenkt werden. Dieser Befriedungspolitik fiel nicht nur die Spanische Republik zum Opfer, sondern auch die Tschechoslowakische Republik. Diesem unehrenhaften und verräterischen Taktieren fielen Hunderttausende Menschen zum Opfer. Das Nichteinmischungskomitee war nur das Feigenblatt für die Befriedungs- und Beschwichtigungspolitik der westlichen Wertegemeinschaft. Der ehemalige Außenminister der Spanischen Republik, Alvarez del Vayo, schrieb in seinem Buch »Die Schlacht um die Freiheit« folgendes: »Es war ein glänzendes Beispiel für die Kunst, das Opfer der Aggression den Aggressionsstaaten auf dem Präsentierteller zu servieren, dabei die vornehmsten Gentlemanmanieren zu wahren und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, als wäre dabei die Erhaltung des Friedens das einige Ziel.« Am 27. Februar 1939 erkannten die britische und die französische Regierung Franco offiziell an und brachen die diplomatischen Beziehungen zur legitimen Regierung der Spanischen Republik ab. TASS veröffentlichte am 4. März 1939 die folgende Erklärung der Sowjetregierung: »Da das Londoner Nichteinmischungskomitee schon lange nicht mehr funktioniert und seine Existenzberechtigung verloren hat, beschloss der Rat der Volkskommissare der UdSSR am 1. März 1939, seinen Vertreter aus dem Nichteinmischungskomitee abzuberufen.« Die Schlacht um Katalonien im Dezember 1938 und Januar 1939 hätte anders ausgehen können. Es gelang nämlich der republikanischen Regierung, große Mengen an Kriegsmaterial im Ausland einzukaufen, was in Frankreich ankam und lagerte. Jedoch verhinderte Daladier, dass dieses Waffen an die Spanische Republik ausgeliefert wurden. In der gleichen Zeit unterstützte die britische Regierung aktiv die Eroberung der Insel Menorca, die während des ganzen Krieges ein Stützpunkt der Republikaner war. Eine schändliche Rolle spielte dabei der britische Kreuzer »Devonshire«.
Über 500.000 zivile Flüchtlinge aus Katalonien übertraten die Grenze zu Frankreich. Und wie wurden sie empfangen? Daladier ließ eiligst Konzentrationslager in Saint Cyprien, in Prates-de-Mollo und andernorts errichten. Die dort eingesperrten ausgehungerten und leidgeprüften Menschen blieben ohne Brot, ohne Seife auf nackten Sanddünen. Seuchen brachen aus. Die Sterblichkeit erreichte riesige Ausmaße. Doch das ließ das Frankreich der 200 Familien kalt. All diese Ereignisse zeigen die gesamte Verlogenheit.
Gefallen ist letztlich die Republik durch Verrat des rechten Sozialisten Besteiro und des Befehlshabers der Zentralfront Oberst Casado. Sie zettelten eine konterrevolutionäre Meuterei an. Sie öffneten Franco die Front, die sich mit einer bestialischen Grausamkeit über die Republikaner hermachte. Und dann, nachdem das finstere Werk vollbracht war, begab sich Casado mit seinen Anhängern an Bord des britischen Kreuzers »Calatea«. Chamberlain hielt es für angebracht, den Verrätern dieses Almosen noch hinzuwerfen.
Dies alles sollte man genau wissen und kennen, wenn man heute Äußerungen der westlichen Wertegemeinschaft im Hinblick auf andere Völker, die nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit streben, bewerten will. Sie waren, sind und werden es immer sein, nämlich unglaubwürdig.
Rainer Hesse, Dresden
Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.02.2021.