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Leserbrief zum Artikel Parteidiskussion Die Linke: Klarheit statt Vernebelung vom 19.02.2021:

Nichts begriffen

Der Beschluss des Parteivorstands der Linken vom 23. Januar erinnert mich fatal an das Glückwunschschreiben der damaligen Parteivorsitzenden Gesine Lötsch und Klaus Ernst an Fidel Castro anlässlich seines 85. Geburtstags im Jahr 2011. Als der damalige Berliner Landesvorsitzende der Linkspartei und heutige Kultursenator Klaus Lederer vom Tagesspiegel um seine Meinung dazu gebeten wurde, antwortete er mit einer durch eine Geste bekräftigten Wasserstandsmeldung: »Mir steht’s bis hier.« Beschämend, hatte ich damals geschrieben, welch eine Chance bot sich ihm an, eine überzeugende Antwort zu liefern. Er hätte ganz anders antworten müssen, allerdings etwas ausführlicher. Zum Beispiel so: Was heute kaum noch jemand weiß, ist, dass es nicht zuletzt der Sowjetunion zu verdanken war, dass die Ausarbeitung der von der UNO bereits 1948 beschlossenen Konventionen über zivile und politische Rechte einerseits und über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte andererseits nach einer teilweise erbitterten Auseinandersetzung über 18 Jahre zustande kam und schließlich 1966 von der UN-Vollversammlung angenommen wurde. Es spricht Bände, dass sich vor allem die USA, Frankreich und Großbritannien gegen die Konventionen stemmten, weil ihnen die Festschreibung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte nicht passte. Es ist eine der großen Leistungen des kubanischen Staates, dass es ihm trotz Blockade, Sanktionen und medialem Trommelfeuer gelungen ist, gerade die sozialen Menschenrechte (Arbeit, Wissenschaft, Kultur, Gesundheitswesen) zu verwirklichen, was ihm – nebenbei bemerkt – auch von Wikipedia attestiert wird. Mir fehlt, hatte ich damals geschrieben, jedes Verständnis für diejenigen in der Linkspartei, die sich opportunistisch vor den Karren einer imperialistischen Menschenrechtskampagne – denn darum kreist ja die ganze Kritik am Castro-Brief – spannen lassen.
Heute, zehn Jahre später, dürfen wir eine Liedzeile von Hannes Wader paraphrasieren: »Viel herumgekommen, noch immer nichts gelernt.« Im Beschluss des Parteivorstands heißt es: »Für die Linke gilt, Menschenrechte sind universell, sie gelten für jede und jeden – überall!« Diesen Satz könnten alle US-Präsidenten, selbst die toten, von George Washington bis Joe Biden locker unterschreiben. Was also hat den Parteivorstand der Linke-Partei in seiner Erklärung bewogen, sich einer klassenneutralen Worthülse zu bedienen?
Zwei Antworten bieten sich an: Die eine ist sowenig schmeichelhaft wie die andere. Mit dem Wunsch nach Regierungsteilhabe wird ideologischer Ballast abgeworfen. Mindestens ebenso schlimm ist der zeithistorische Gedächtnisverlust. Beides hängt miteinander zusammen. Ich will dies am Beispiel der ersten sandinistischen Regierung in Nicaragua Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts illustrieren. Sehr bald nach der Machtübernahme der Sandinisten wurde der Staat nach allen Regeln der imperialistischen Konfliktsteuerung so in die Enge getrieben, dass sich die Regierung gezwungen sah, den nationalen Notstand mit allen Einschränkungen, die eine solche Maßnahme mit sich bringt, auszurufen. Prompt flossen aus konterrevolutionären Augen literweise Krokodilstränen über Menschenrechtsverletzungen. Der im Kampf gegen die Contras gefallene Sandinist Enrique Schmidt hat vor 40 Jahren in einem Gespräch mit dem Spiegel (Nr. 20, 1981) auf Fragen nach Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua Antworten gegeben, die noch heute Allgemeingültigkeit besitzen. »Was hier in Nicaragua geschehen ist«, sagte er, »war eine Revolution und nicht die Jahreshauptversammlung der Heilsarmee. Wir haben 46 Jahre gegen eine Diktatur gekämpft, deren Greueltaten kaum vorstellbar sind. Somoza und seine Nationalgarde haben Tausende zu Tode gefoltert und abgeschlachtet. Wenn Sie jetzt nach einem Aufstand, der 50.000 unserer Landsleute das Leben gekostet hat, hierherkommen und an alles, was jetzt passiert, die Elle mitteleuropäischer Menschenrechtsvorstellungen anlegen wollen, dann haben Sie die falsche Elle mitgebracht. In der politischen und ökonomischen Bedrohung, in der sich Nicaragua jetzt befindet, können Sie uns nicht mit der Art politischer Menschenrechte kommen, die in Europa auch nur zu Friedenszeiten gang und gäbe sind.«
Blicken wir nun auf Kuba und zu Fulgencio Batista. Dieser Mann war nämlich von 1952 bis 1958 in diesem Staat Präsident und Menschenschlächter in Personalunion. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge ließ er bis zu 20.000 Menschen nach zum Teil fürchterlichen Folterungen ermorden und veranlasste, die Leichen zur Abschreckung aus Autos werfen. Dieser Mann war noch 1957, also ein Jahr bevor Castro ihn aus dem Amt und dem Land warf, im Rahmen eines Staatsbesuchs in der BRD mit dem höchsten, nur Staatsoberhäuptern vorbehaltene Orden geehrt worden. Er nennt sich »Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland«.
Kommen wir zum Wesentlichen: Die Revolutionen in Nicaragua, Kuba und nicht zuletzt in China haben ihre Wurzeln in der antikolonialen Befreiungsbewegung. Es war ein Kampf um Anerkennung, Würde und um das nationale Selbstbestimmungsrecht, und der wurde auch von den Linken dies- und jenseits des Atlantiks anfangs mit großer Sympathie begleitet. Denken wir nur an die weltweite Solidarität für das vietnamesische Volk. Als sich aber herausstellte, dass sich die antikoloniale Revolution mit kommunistischen Bewegungen verband, versiegte die Anteilnahme sehr schnell. Sie haben, auf dem vom westlichen Wohlstand gepolsterten Hochsitz sitzend, die progressive und emanzipatorische Reichweite der antikolonialen Weltrevolution letztlich nicht verstanden. Sonst würden sie begreifen, dass der Kampf, das koloniale Joch abzuschütteln, noch immer im Gange ist. Und sie würden nachvollziehen können, dass für eine beschleunigte ökonomisch-technische Entwicklung nolens-volens die Erfordernisse der Demokratie (nach westlicher Lesart) in diesen Ländern zurückstellen werden mussten. Es muss hier nicht herausgestellt werden, dass die westliche Führungsmacht mit Abschluss des Potsdamer Abkommens 1945 eine Regime-Change-Politik betrieben hat, die das amerikanische Jahrhundert befestigen sollte. Jeder Mord an einem führenden Politiker, jeder Putsch und jeder Krieg wurden vom US-Imperium unter dem Menschenrechtslabel geführt und gerechtfertigt. In diesem Kontext ist auch die inzwischen 60jährige Blockade gegen Kuba (»Kuba ist eine Gesundheitsweltmacht«, so Dr. Wolfram Elsner, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen i. R.) zu verstehen. Jüngst hat der neue US-Präsident Joe Biden verkündet, dass unter seiner Führung die EU, Australien, Japan, Südkorea, Indien sowie weitere Akteure des Mittleren Ostens inklusive Saudi-Arabiens (!) zu einer »Vereinten demokratischen Front« gegen China zusammengeschlossen werden sollen.
Nun hat sich Vorstand der Linke-Partei positioniert: Er verurteilt nicht nur entschieden die Verschärfung der US-Sanktionen gegen Kuba, sondern er unterstützt auch die Kampagne und die Petition »Für ein Ende der Blockade gegen Kuba«. Aber dann steht da der Satz in der Erklärung, der dem Bekenntnis zum universell geltenden Menschenrecht folgt: »Wir treten ein für eine Fortsetzung des Dialogs in Kuba mit kritischen Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten zur Demokratisierung der kubanischen Gesellschaft.« Wer immer die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind, die in einem solchen Prozess einbezogen werden sollen, entlarvend ist doch, dass führende Vertreter der Partei Die Linke das Wesen einer sozialistischen Demokratie unter Führung einer kommunistischen Partei in Kuba wie auch in China nicht verstanden haben bzw. nicht akzeptieren wollen. Nur so lässt sich erklären, dass sie aus einer eurozentristisch geprägten Position moralischer Überlegenheit heraus meinen, Nachhilfeunterricht im Fach Demokratie erteilen zu dürfen.
Hans Schoenefeldt
Veröffentlicht in der jungen Welt am 20.02.2021.
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