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Leserbrief zum Artikel Bewegung um Nawalny: Dosierte Repression vom 25.01.2021:

Offene Fragen

Im Bericht von Reinhard Lauterbach über die Proteste in Russland fehlen mir vor allem folgende Informationen:
– Welche Forderungen haben die Protestierenden vertreten, außer Freiheit für Nawalny?
– Welche Rolle haben Parolen wie »Putin, uchodi« (Putin, hau ab) bzw. »Putin, wor« (Dieb) gespielt, von denen ich andernorts gelesen habe?
– Unklar bleibt, warum vor allem junge Menschen protestiert haben, worum ging es ihnen?
– Welche Parolen haben diese zum Ausdruck gebracht ?
– Die Beiläufigkeit, mit der von der Verhaftung von Journalisten berichtet worden ist, stört mich.
– Ob man die offenbar größten Proteste seit langem als »überschaubar« bezeichnen sollte, finde ich fragwürdig.
Könnten Sie meine Gedanken zu dem heutigen Bericht bitte weiterleiten?
Reinhard Weißmann, Hankensbüttel/Niedersachsen

Kommentar jW:

Auf diesen Brief antwortete unser Autor Reinhard Lauterbach:

vielen Dank für ihre Zuschrift. Sie stören sich an einigen Dingen, die meinen Bericht von denen in den bürgerlichen Medien unterschieden haben mögen. So meiner Bewertung, die Proteste seien »überschaubar« gewesen. Sorry, das waren sie wirklich. Zehntausend Leute – mehr haben auch die Nawalnisten zum Schluss nicht mehr behauptet, die Reuters-Schätzung von 40.000 war aus Hypegründen aus der Luft gegriffen und wurde später von der Agentur selbst nicht mehr wiederholt – sind in einer Zwölfmillionenmetropole wie Moskau nicht besonders viel. Ich habe einige weitere Zahlen aus den Regionen zitiert – nach »reformerischen« Quellen wie der Nowaja Gazeta oder dem Nawalny-nahen Portal Tayga.info sowie dem Moskauer Wirtschaftsportal rbc.ru. Dass die Proteste die größten seit zehn oder fünfzehn Jahren waren, ändert hieran nichts. Das ist eine relative Bewertung. Wenn sich Greta Thunberg eines Tages zum Protestieren auf den Südpol stellen sollte, wäre auch das ein Rekord, selbst wenn sie nur ihr Transparent dabei hätte, weil es die erste solche Demo in der Menschheitsgeschichte wäre.

Sie bemängeln weiter, dass ich nicht zitiert habe, dass die Leute Putins Rücktritt gefordert haben. Nochmals sorry, aber wenn ich mich – meinetwegen auch als Teil einer Menschenmenge - ans Brandenburger Tor stelle und den Rücktritt von Merkel fordere, ist das so relevant, als wenn in Kreuzberg ein Blumentopf vom Balkon fällt. Denn erstens ist so eine Rücktrittsforderung völlig systemimmanent, weil sie nur darauf hinausläuft, eine andere Person an der Spitze sehen zu wollen, und zweitens fehlte – da wiederhole ich mich – diesen Demonstrationen bei weitem die kritische Masse, um Putins Rückritt erzwingen zu können. Also: Das war Lyrik.

Weiter: Sie stören sich daran, dass ich die Festnahmen von Journalisten bagatellisiert hätte. Das tue ich nicht, ich habe es erwähnt, und es ist jedem freigestellt, daraus seine Schlüsse zu ziehen. Ich habe es analysiert als den Versuch, bevorzugt mögliche Multiplikatoren oppositioneller Botschaften einzuschüchtern oder aus dem Verkehr zu ziehen. Was ich mir verkniffe habe, ist, dies als Ausdruck de besonderen Bosheit des »Putin-Regimes« zu brandmarken. Aber erstens kommt so was auch im Westen vor – G20 usw. –, und zweitens halte ich gar nichts von der berufsständischen Borniertheit der bürgerlichen Kollegen, jeden festgenommenen Journalisten für etwas tendenziell Besseres oder Wichtigere zu halten als irgendeinen festgenommenen namenlosen Demonstranten.

Dass an den Kundgebungen überwiegend junge Leute beteiligt waren, habe ich am Ende des ersten Absatzes erwähnt. Zeit für die Interpretation ist dann bei nächster Gelegenheit. Nicht alles geht immer in einen Artikel, das verhindern formale Obergrenzen für den Umfang solcher Materialien. Da bite ich also um Geduld, sobald ich einmal über das Milieu der Nawalnisten schreibe, werde ich diesen Aspekt gebührlich würdigen.

Mit freundlichem Gruß

Reinhard Lauterbach

Veröffentlicht in der jungen Welt am 26.01.2021.
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