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Leserbrief zum Artikel Kommentar: Prozess der Verrohung vom 08.01.2021:

Doppelte Standards

Auf dem Grabstein von Kurt Tucholsky im schwedischen Mariefred steht eine seiner Sentenzen, wonach sinngemäß sich alles im Leben auf einen Vergleich reduzieren lässt. Sich daran erinnernd, sah ich mich dazu veranlasst, die Bekundungen des Entsetzens von seiten der meisten Staatsrepräsentanten des Westens, darunter auch von Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier, anlässlich des Sturms der von Trump angestachelten Anhänger auf das Kapitol in Washington mit größerer Aufmerksamkeit zu lesen und zu hören. Von einer unverzeihlichen »Verletzung des Herzens der ältesten Demokratie der Welt« wurde da mit pastoralem Vibrato in der Stimme hoheitlicher Anteilnahme im Sinne westlich freiheitlicher Staatsraison Ausdruck verliehen. In der Tat ist der Vandalismus der aufgeheizten Trump-Anhänger im US-amerikanischen Parlamentsgebäude von Senat und Repräsentantehaus auf das tiefste zu verurteilen. Dennoch wird die im Westen ritualisiert vergötterte Demokratie der USA noch immer von den Merkmalen einer Sklavenhalterdemokratie geprägt, die sich im alltäglichen Rassismus der Gesellschaft bis hin zu einem wahrlich archaischen Wahlsystem manifestiert. Sie zeigt sich in entsprechend rücksichtsloser Rigorosität in dem Anspruch auf globale Dominanz nicht nur gegenüber ihren Bündnispartnern innerhalb und außerhalb der NATO (siehe u. a. Nord-Stream-Sabotageversuche). Allem voran aber in der wachsenden Aggressivität gegenüber Russland und China durch den umfassenden Ausstieg aus dem System bilateraler und multilateraler Verträge, insbesondere aus den bisheriger Abkommen zur Rüstungsbegrenzung.
Im Zusammenhang mit dem Sturm der Trumpisten auf das Kapitol stellt sich mir aufgrund der durchaus gerechtfertigten massenmedialen Resonanz, die dieses »antiparlamentarische« Ereignis hervorgerufen hat, die Frage, wie bisher auf andere Fälle von Parlamentserstürmungen reagiert wurde. Sowohl von den Medien als auch von politisch maßgeblicher Seite wurde beispielsweise der Maidan-Sturm 2014 in Kiew auf die Gebäude von Regierung und Parlament nicht nur mit wohlwollender Sympathie reagiert, sondern aktiv durch die Präsenz und Einmischung namhafter hoher offizieller Regierungsvertreter des Westens (Victoria Nuland/USA, Carl Bildt/Schweden, Guido Westerwelle/BRD und viele mehr) auf dem Platz des Aufruhrs unterstützt. Der zur Flucht gezwungene Ministerpräsident Janukowitsch – immerhin durch demokratische Wahlen legitimiert – wurde wegen seines Versuches, EU und Russland integrations- und handelspolitisch zugunsten der Ukraine zu einem Kompromiss zu veranlassen, gewaltsam gestürzt. Analog unterstützende Positionen in bezug auf den Parlamentssturm in Hongkong durch die sogenannte Demokratiebewegung oder in Georgien kennzeichneten die dominierende Linie der westlichen Medienberichterstattung. Ähnliches gilt für Lateinamerika in Hinblick auf Bolivien oder Venezuela. Die Aktionen westlicher Politik scheinen immer von den »Guten«, also a priori den Demokraten, zu kommen, während die bösen Buhmänner wie üblich im Osten sitzen oder aber zu Antidemokraten deklariert werden. Leider sieht es ähnlich einäugig auch in der Frage der Menschenrechte aus. Wovon – toleriert durch westliche Rechtsstaatlichkeit – in wahrlich unmissverständlicher Weise das von den USA bedrohte Leben Julian Assange ein alarmierendes Signal für alle der Wahrheit verpflichteten Berichterstatter ausgeht.
Prof. Dr. Gregor Putensen, Greifswald
Veröffentlicht in der jungen Welt am 14.01.2021.
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