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Leserbrief zum Artikel Klimastreikaktionen: Weil’s der Markt nicht regelt vom 25.09.2020:

Gegen Salonlinke und Pseudogrüne

Guten Morgen, es nützt ja nichts, aber – warum auch kein Leserbrief. Was Claudia Wangerin schreibt, stimmt ja. Der Markt regelt es nicht. Doch das Bild, das Linke sich malen, hat mit der Realität der letzten 30 Jahre nichts zu tun. Was Greta Thunberg seit 2018 fordert oder Brot für die Welt neuerdings, war seit 1990 klar. Doch da schliefen fast alle Linken. Wirklich fast alle. Ich fand es schön von Halina Wawzyniak, die fassungslos sah, wie die spätestens seit 1995 marktliberal gewendeten »Grünen« an der Linkspartei vorbeizogen, einfach mal zuzugeben, wie es war. Um 1998 hatte es in der Linkspartei Gruppen gegeben, die den vor allem vom Westen verursachten Klimawandel stärker bekämpfen wollten. Die meisten winkten ab – im Grunde bis heute. So konnte das paradoxe Phänomen entstehen, dass in Berlin-Mitte, -Neukölln oder in München und Hamburg-Eppendorf um 35 bis 50 Prozent »Grüne« wählen und gleichzeitig zu den Millionen zählen, die den Klimawandel am meisten befördern. Eine Linke wäre die Partei gewesen, die so was hätte verhindern können – doch man hat es verschlafen. Doppelmoral in einer Zeit, in der »wir uns täglich neu erfinden«, ist das Ergebnis. Gelaber statt Tatsachen.
Wir lügen uns vor, damit wir besser dastehen, wie gerade Linksradikale versagt haben. Es gibt so viele Beispiele, fast ist es Zufall, was man wählt. Herr Slavoj Zizek redet in einer Welt, in der alle pausenlos jedes neue technische Gadget kaufen und dann das nächste Modell und das neueste, davon, dass die Linke »technikfeindlich« sei. Um es platt zu sagen, und ich mag solche Sprüche ja, »was raucht der nur«? Dietmar Dath verschlief das Thema vor allem, weil er ja ganz richtig sah, dass die »Grünen« eine furchtbare Partei sind. Allerdings wurden sie seit der »Pizza connection« (Taz, Katrin Göring-Eckardt und viele schauten auf die CDU) noch schlimmer, und das sah Dath kaum. Die marktliberalen Grünen aber waren doch kein Grund, dass Millionen Linke selbst einen Lifestyle pflegen, der monströs ist, 15–50 Tonnen CO2 usw. pro Person sind üblich, allein durch die manische Vielfliegerei und den Gedanken, wir hätten das Recht, Patagonien, die USA, Thailand, Kuba, Indonesien und 100mal Südeuropa in 15 Jahren zu sehen. Niemand forderte die hohe Besteuerung des steuerfreien Flugverkehrs. Als Nachtzüge – zu teuer, hohe Steuern – fast eingingen: Schweigen. »Ist eh unzumutbar, mit dem Zug nach Italien.« Tausendfach gehört. Dann lügen wir doch nicht.
Nun jammern diese Leute, wo denn das Wunder durch die Wissenschaft bleibe, so eine Art Ablasshandel: »Saug ein, was wir rausgeblasen haben.« Ich hörte exakt das hundertfach von Linken, die dir eloquent erzählen, wie »pervers« der Ablasshandel der katholischen Kirche war (da haben sie recht.)
Auf allen Demos, die es gibt, gab es nicht eine einzige, auch nicht von FFF, die auch nur eine große Minderheit von Leuten hätte, wie wir sie uns erträumen. Die Linke hat das Thema fast 30 Jahre lang verschlafen.
Die paar versprengten Leute, die das kritisierten und selbst versuchten, anders zu leben, wurden jedesmal als »politisch korrekt« oder »Gutmenschen« verhöhnt. Da trafen sich weit Rechte mit Linksradikalen. Am Ende ähnelten sich die Positionen von abstrusen »Deniern« (»Leugnern«) oder »Macht-doch-alles-nix«-Leuten wie Dieter Nuhr, der »Achse des Guten« oder dem Exmaoisten Ralf Fücks, die panisch für mehr Marktradikalität kämpfen und in unterschiedlicher Weise den Kopf in den Sand stecken, und all den Richtungen linksradikaler Parteien und Menschen fast. »Konsumverzicht ist reaktionär«, war das Mantra. Wirklich reaktionär aber ist, so was zu schreiben. Denn es handelt sich nicht um »Konsumverzicht« der 80 Prozent auf der Erde, die wenig zum Klimawandel durch Gier und Konsumrausch beitragen. Wie Linke auch das übersahen – es ist kaum zu glauben.
Es handelt sich überhaupt nicht um »Konsumverzicht«. Es ist schlicht absurd, immer »den Kapitalismus« zu beklagen, selbst aber vier- bis zehnmal im Jahr Luxustourismus per Flieger zu frönen, bei Amazon zu kaufen, 75 Prozent aller Klamotten zu Zalando zurückzuschicken, bei Facebook und Twitter zu sein, Netflix zu abonnieren und überhaupt fast alles mitzumachen. In Hamburg oder Berlin mit 25 E-Bike fahren: Damit zeig’ ich, dass ich keinen Bock auf Radfahren habe (Max Uthoff, ganz richtig; es gibt 500 Euro vom Staat, und das mit Akku stellen die meisten neben ihr Auto, sie ersetzen das Auto kaum. Lastenbikes ohne Akkus für die 1,5 Kilometer zur Kita: Ey, unmöglich!).
Und dann »Verzicht« wittern. So ein »Sozialismus« im Westen will im Kaufrausch bleiben, alles aber verstaatlichen. Das ist kein Sozialismus. So ging’s nicht seit 1990. Leider gibt es keine zwei Erden. Eine für die Ablasshandel-Leute, die zehn Prozent, die fröhlich alles raushauen. Und eine für die große Mehrheit, die weit weniger dazu beitrugen. Fröhlich kommen mir die Konsumist(inn)en von weit rechts bis weit links auch nicht eben vor. Zehn Prozent zwingen alle, wie wir auf Coronaimpfstoffe warten, auf technische Lösungen zu hoffen, während die zehn Prozent schon von Lufttaxis, Energie verschlingenden selbstfahrenden Autos und Robotern träumen. Fragen wie: Funktionieren »Renewables« wirklich »nachhaltig« (wie im Film »Planet of the Humans« mit vielleicht ja falschen Zahlen immerhin gefragt – siehe auch https://thegrayzone.com/2020/09/07/green-billionaires-planet-of-the-humans/) – nee. Das ist reaktionär. Wir machen weiter so, und hey, der Kapitalismus, weißte. Der Kapitalismus. Wann kann ich denn wieder nach Kuba fliegen? Internationale Solidarität und so? Fliegen die nicht so oft zu uns? Ächt jääätz? Wusst ich gar nicht.
Georg Fries, Hamburg
Veröffentlicht in der jungen Welt am 25.09.2020.
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