Leserbrief zum Artikel Industrie: Ringen um Staatsknete
vom 07.09.2020:
Autistenindustrie
Wie alt ist der Hut, den die FDP da ausgräbt? »Todesstoß für den städtischen Einzelhandel«: Als in den 1970er Jahren auch in westdeutschen Kleinstädten Fußgängerzonen eingerichtet wurden, waren es regelmäßig leicht rechtslastige Unternehmerlobbys, die derlei für den ach so notleidenden »Mittelstand« befürchteten: damals übrigens eher noch die CDU als die vorübergehend semiprogressive FDP, im Südwesten zusätzlich irgendwelche »Freien Wähler«. Regelmäßig trat nach irgendwie abgespeckter Einführung der Fußgängerzonen das genaue Gegenteil ein: Der Umsatz stieg, als wir uns in Städten wieder halbwegs bewegen durften. Gastwirte bemerkten einen ähnlichen Trend erst in den 1980er Jahren – zuerst in Österreich, mit Verspätung in Westdeutschland: dass nicht alle Fahrradfahrer Habenichtse sind, sondern im Gegenteil eher die solventeren Tages- oder Übernachtungsgäste. Sie wurden ihr Geld ja noch nicht durch die eigentlich eher ineffiziente Autoanreise los. Was die FDP hier von sich gibt, ist einmal mehr pure Ignoranz der angeblichen »Mittelstandspartei« (so Hermann Scheer, SPD, über die FDP in »Klimawechsel«). Und Menschen, die »auch in Städten … auf das Auto angewiesen sind«, traf Gerhard Hillebrand vom Allgemeinen Amerikanischen Automobilclub (AAAC) vermutlich am ehesten im Mittleren Westen der USA. (In Mannheim und dem Verbund Rhein-Neckar gibt es notfalls sogar Carsharing auf die Monatskarte des ÖPNV!) Walter-Borjans (SPD) spricht dagegen immerhin von der »Kraft der Erneuerung«, die die Kfz-Industrie allerdings schon seit 40 Jahren schmerzlich vermissen lässt. Können die gar nichts Gescheiteres bauen als Autos, Autos, Autos und noch mehr Autos? Busse für Linienverkehr zum Beispiel? Triebwagen für Schienenverkehr vielleicht sogar? Straßenbahnen, Stadt-Umland-Bahnen, Hybrid- und Elektrobusse? Andererseits bemüht auch Walter-Borjans ähnlich vorgestrig wie FDP/ADAC die »Millionen von Arbeitsplätzen«: Das behauptet die Autoindustrie seit Jahrzehnten, vorzugsweise mit Einrechnung der Friseuse des Currywurstverkäufers am Werktor. Natürlich bedingen außer der Autistenindustrie auch die Branche X, die Branche Y und die Branche Z derzeit indirekt gut 40 Millionen Erwerbsarbeitsplätze: »Alles hängt mit allem zusammen.« (Angela Merkel) Vor allem aber: Sind »Millionen von Arbeitsplätzen« eigentlich Selbstzweck? Sollte das, was da im Übermaß produziert wird, nicht doch auch einen minimalen ökosozialen Zweck haben? Konversion heißt das Zauberwort für veraltete Branchen. Und wie ich oben aufführte, läge gerade im Fahrzeugsektor die sinnvolle bis notwendige Konversion technisch gar nicht in so weiten, psychologisch schwierigen Fernen: Busse, Trams, Züge brauchen wir, bitte – aber ganz bestimmt keine weiteren SUV: Nicht jeder arbeitet in der Forstwirtschaft, und wer es doch tut und dazu ein SUV einsetzt, ist wahrscheinlich am besten sensibilisiert, wie er in seinem freien Tag in die Stadt kommt; zufällig nicht mit seinem Dienst-SUV …
Veröffentlicht in der jungen Welt am 17.09.2020.