Leserbrief zum Artikel EU-Grenzregime: Abschottung tötet
vom 31.08.2020:
Vor der eigenen Tür
Hat Corona jetzt auch die Menschlichkeit aus den Tagesnachrichten verdrängt? Gewiss, Faschismus rückt in der BRD nach und nach bis an die Zentren der Macht, da ist öffentliche Empörung angesagt. Wer denkt schon zurück bis 1949, als – im Widerspruch zum Potsdamer Abkommen – Nazis in der BRD weitgehend unbehelligt blieben oder rehabilitiert wurden? Es ist beschämend, dass heute täglich in Europa die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt und medial in den Hintergrund gedrängt wird. Es ist ein Skandal, dass stündlich Flüchtlinge aus dem Mittelmeer nur noch – wenn überhaupt – mit Hilfe privater Initiative gerettet werden können. Laut Innenminister Seehofer hat man inzwischen die Flüchtlingskrise »in den Griff bekommen«. Das ist zynisch. Unterlassene Hilfeleistung bei der Rettung von Flüchtlingen widerspricht nicht nur dem Grundgesetz, sondern dem Völkerrecht. Die Medien – mit Ausnahme einiger linker Printmedien – verschweigen beharrlich zugunsten »aktueller« Coronastatistiken die Katastrophe, die sich täglich Mittelmeer abspielt. Immer wieder sind es private Rettungsschiffe wie jetzt die »Louise Michel« mit der mutigen Kapitänin Pia Klemp, die Flüchtlinge, die um ihr Leben kämpfen, aus völlig überladenen, untauglichen Booten in Sicherheit bringen. Und die EU schaut weg; staatliche Unterstützung für Kreuzfahrtschiffe ist wohl wichtiger. Mit der Aufnahme an Bord der Rettungsschiffe sind das Elend und die Gefahr für die Flüchtlinge aber nicht zu Ende; oft müssen sie tagelang warten, bis ihnen die Landung in einem sicheren Hafen gestattet wird. »Wir lassen sie ertrinken«, sagte einst der Schweizer Autor Jean Ziegler. Jetzt verdrängt die Coronapandemie in der medialen Berichterstattung jene menschliche Katastrophe, die tagtäglich sozusagen vor unserer Haustüre stattfindet.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 02.09.2020.