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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Sozialstaat: Zu Lasten der Lohnabhängigen vom 10.08.2020:

Sozialstaat wiederherstellen

Sich wie Genosse Ralf Krämer als Gewerkschaftssekretär mit Konzepten des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) nicht ernsthaft auseinandersetzen zu wollen, ist leider bei strukturkonservativen Gewerkschaftern noch immer verbreitet. Trotz Nennung von Hartz IV an einer Textstelle hat er allerdings die bereits vollzogene »Zerschlagung« des Sozialstaats noch nicht mitbekommen, die er quasi auf verlorenem Posten noch immer abwenden will. Doch selbst wenn wir uns noch des Status quo ante erfreuten, so wäre der harte Begriff »Zerschlagung« im Fall eines strukturell und quantitativ erheblich verbesserten Ersatzes eines überlebten Systems (durch das BGE) wenig sinnvoll: »Zerschlage« ich etwa bei Umzug meine frühere Wohnung, bei Pensionierung meine aktive Karriere, am Ende bei Wechsel der Parteipräferenz meine Persönlichkeit? Wäre es nicht umgekehrt zutiefst unkreativ, unpolitisch und am Ende reaktionär, wie Krämer alles so lassen zu wollen, wie es zufällig gerade ist, und das womöglich für »Realismus« zu halten? (»Ich glaube …, dass, wer nur an heute denkt, ein Träumer – und wer von morgen träumt, pragmatisch ist«, Eckes Frank; »Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen«, SPD-Slogan am Vorabend der erfolgreichen »Willy-Wahl« 1972 in der BRD.) Richtig ist Krämers Feststellung, dass »erhöhte Steuern oder Abgaben das Geld reinholen« müssen für das BGE. Daher kommt es – beileibe nicht nur, aber in besonderem Maß – für das BGE auf die Steuerstruktur insgesamt (Stichwort Vermögen, Schenkung, Erbschaft – oder auch schlicht »Take half«, das sogar der heutigen Struktur nachgeschaltet werden könnte) an. Richtig ist auch, dass es um »immense Summen« geht, die »zusätzlich« – wieso eigentlich »zusätzlich« bzw. zusätzlich zu welchen Cent-Beträgen? – »umverteilt werden müssten«. Völlig unbegründet lässt Krämer, wieso es deswegen »ökonomisch unmöglich« wäre, »diese … zu Lasten des Kapitals und der Reichen aufzubringen«. Solche Scheinlogik könnte ebensogut jegliche Steuererhebung jeden Staats a priori zur Illusion erklären – der Lindner-Verein würde Krämer mit Handkuss willkommen heißen. Die Unlogik potenziert sich in der durch gebetsmühlenhafte Wiederholung noch nicht verständlicher gewordene Parole, ein sinnfällig eingezogener doppelter Boden könne »zur verschärften Lohndrückerei genutzt« werden. Nach Grenznutzen- oder gar Markterwägungen ist das genaue Gegenteil der Fall, das niedrigste effektive Erwerbseinkommen muss erkennbar über dem garantierten arbeitsfreien Einheitseinkommen liegen, falls ein heute noch immer Lohnabhängiger dann überhaupt noch zum Opfer seiner Lebenszeit motiviert werden soll. Zum ersten Mal genösse er Vertragsfreiheit in einem nicht nur formellen, sondern auch materiellen Sinn. (Weshalb es heute »Aufstocker« gibt, was meiner Überlegung auf den ersten Blick zu widersprechen scheint, wäre hier detailliert zu diskutieren, etwa im Blick auf die nur für Nichtaufstocker gültigen Hartz-Schikanen, die zu beseitigen doch wohl hoffentlich noch Konsens ist, aber auch auf Aspekte wie vermeintliche Zukunftsperspektiven, immaterielle Aspeckte des Ansehens, der sozialen Kontakte oder gar – wohl nicht immer so ganz ehrlich – angeblicher »Befriedigung« durch angeblich »Arbeit«.) Pochen auf »Arbeitnehmerrechte und Tarifverträge« ehrt natürlich einen Gewerkschafter, doch kam vor allem vor Einführung des Mindestlohns auch zur Sprache, dass gerade die hoch entwickelten nordischen Staaten einer ganzen Reihe staatlicher/gesetzlicher Regelungen gar nicht erst bedürfen, weil vollständige Entsprechungen dafür bereits durch die Gewerkschaften reguliert sind. Im Ergebnis ist es wahrscheinlich Jacke wie Hose, ob ein und derselbe Effekt staatlich oder gewerkschaftlich garantiert ist. Wenn allerdings just die »Schwarzgelben« ihre gut verborgene Liebe zur »Tarifautonomie« entdecken, um politische Untätigkeit zu »begründen«, mögen sich die Gewerkschaften durchaus fragen, wieso sie derart schwach wurden, dass sie diesen da lieber sind als jedes längst überfällige Gesetz – einschließlich der Steuergesetzgebung. »Mehr Demokratie wagen« und einen besseren Gini-Koeffizienten wagen – das heißt zuerst und vor allem auch die Wiederherstellung des Sozialstaats zu wagen: vorzugsweise mit dem BGE.
Bernhard May, Solingen

Kommentar jW:

Auf diesen Leserbrief antwortete Viktor Durnick:

Erstaunlicherweise bemühen sich immer wieder Gutmenschen, man könnte sie auch Traumtänzer nennen, die Mumie »bedingungsloses Grundeinkommen« (BGE) aus der Gruft zu holen. Wenn sie erleben, welche Verrenkungen selbst wegen ein paar »Peanuts« mehr beim Mindestlohn oder bei der Erhöhung der Hartz-IV-Sätze veranstaltet werden, müssten sie eigentlich stutzig werden. Beim BGE geht es doch um ganz andere Beträge. Man muss davon abkommen, das Thema Umverteilung innerhalb der Steuerlogik zu diskutieren. Auch das BGE würde bei steigenden Lebenshaltungskosten »Armut per Gesetz« bedeuten. Mit Karl Marx im Hinterkopf geht es darum, die Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln zu verändern. Dann braucht bei den Besitzenden und Reichen nicht um Almosen gebettelt zu werden. Die BGE-Verfechter sind der FDP nahe, nicht der linke Gewerkschafter Ralf Krämer.

Leser Roland Winkler aus Aue merkte an:

Man muss sich ernsthaft mit einem »bedingungslosen Grundeinkommen« (BGE) auseinandersetzen – dem kann nur zugestimmt werden. Zu Recht erwartet es Bernhard May in seinem Leserbrief von einem Gewerkschaftssekretär. Diskussionen um ein BGE nehmen zu. Befürworter stehen den Kritikern gegenüber, Argument gegen Argument. Vorwürfe werden gegenseitig erhoben, Unterstellungen sind zu vernehmen, wozu die eine oder andere Seite keine Antwort gebe, nur behaupte usw.
Dabei geht es zunächst nicht einmal um jedes Detail einer Umsetzung oder Finanzierung.
Es scheint zu einem bedeutendem Thema zu werden, weil Kapitalismus als Gesellschaft weder Lösung noch Antwort zur Zukunft der Arbeit und ihrem Träger »Arbeitskraft« hat. Künstlich gesenkte Arbeitslosigkeit verbirgt das wachsende Problem nur bzw. offenbart die Verelendung der arbeitenden Klasse, wie Marx schon beschreibt. Digitalisierung wird zum Schreckenswort, da sie viele Millionen arbeitslos machen werde, Millionen Arbeitsplätze koste und soziale Gefahren bringe.
Geschieht das nicht schon längst? Bedroht Kapitalismus mit seinen Krisen, Kapitalverwertungszwängen und sinkender Tendenz der Profirate nicht selbst und ohne Digitalisierung die Zukunft von Arbeit, Arbeitskraft als Mensch? Was treibt das Kapital anderes an als maximal profitable Verwertung sprich Ausbeutung der Arbeitskraft in dem Umfang, in dem er sie benötigt. Was aber mit dem Teil, der größer wird und nicht gebraucht wird? Das ist zugleich Sorge der Gewerkschaften bis zu Linken, aber auf unterschiedliche Weise.
Es dürfte also erst einmal Antwort erwartet werden, wie sich vorgestellt wird, dass Kapitalismus das Problem mit einem BGE zu lösen vermag, heißt: eine andere Lösung, als es »Hartz« sein sollte und noch ist. Linke und Gewerkschaften sollten die Frage beantworten, wie Kapitalismus beizubehalten ist, Ausbeutung, Verwertung von Arbeitskraft, Profitprinzip und alle Spielregeln der Gesellschaft, und mit einem BGE die sozialen Probleme aus der Welt zu schaffen wären. Womöglich in Partnerschaft und Solidarität, aus freiwilliger Einsicht des Kapitals usw. Das wäre die eine Seite, die kaum gehen wird, ohne dem Kapital die Lohnarbeit als Profitquelle streitig zu machen. Ein »Hartz 2.0« kann sicher auch keine Lösung sein.
Ein weit wichtigerer Punkt ist ein ganz anderer, der selten thematisiert wird.
Zumindest in der Linken sollte es eine Überlegung wert sein zu fragen, was Arbeit für den Menschen an sich ist und bedeutet. Kann es dann auch nur ansatzweise eine Überlegung sein, Menschen von gesellschaftlicher Arbeit auszuschließen, sie in den Verdacht der Faulheit zu bringen, wie es längst mit dem BGE oft genug getan wird?
Mitunter findet man sich geradezu in die Zeit utopischer Sozialisten zurückversetzt. Nur, diese waren noch große Denker und Humanisten, denen wesentliche Kenntnisse des Kapitalismus fehlten.
Wieviel Träumerei ist es dann heute, die Befreiung der Menschen von der Arbeit, Wohlstand und Existenz im Kapitalismus zu verwirklichen?

Auf den ersten Brief antwortete Bernhard May:

Zum Leserbrief von Viktor Durnick zum Leserbrief „Sozialstaat wiederherstellen, Leserbriefe vom 17.08.2020:
Wir müssen gerade nicht »davon abkommen, das Thema Umverteilung innerhalb der Steuerlogik zu diskutieren« – vielmehr genau dorthin: wenn auch nicht nur innerhalb der aktuellen Steuerstruktur, sondern im Kontext aller möglichen sinnvollen, notwendigen oder eben auch unsinnigen und ökosozial kontraproduktiven Steuerstrukturen. Konsens besteht z. B. hoffentlich in der Ablehnung von Götz Werners Finanzierungskonzept für das »bedingungslose Grundeinkommen« (BGE): Dem anthroposophischen Unternehmer verdanken wir zwar, dass über das BGE überhaupt diskutiert wird, und sei es mit zwei bis drei Jahrzehnten Verspätung. Zweitens ist Herrn Werner durchaus bewusst, dass es »um ganz andere Beträge« (Viktor Durnick) geht. Drittens aber will er diese stattlichen Beträge mittels einer übergroßen Verbrauchssteuer (50 Prozent und damit ein Vielfaches der sonst, ob vor oder während Pandemien, üblichen Mehrwertsteuersätze) abschöpfen. Genau diesen letzten Punkt lehne ich als BGE-Befürworter kategorisch ab: Worin läge bei der Werner-Steuer noch das geringste Progressionselement, worin also die Umverteilungsfunktion als vornehmste Aufgabe jeder modernen Steuer und jeglichen vernünftigen Erstrebens besserer relativer Gleichheit? Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Denken wir uns eine Vermögen- einschließlich Schenkungs- und Erbschaftssteuer mit angemessenem Freibetrag nicht allzuhoch über dem ersten Milliönchen und spürbarer Progression darüber, deren Spitzensatz oberhalb obszöner Beträge gern auch asymptotisch gegen 100 Prozent streben darf, so könnte diese nicht nur allerlei sophistische »Doppelbesteuerungs-Argumente« irgendwelcher Gerichte ins Leere laufen lassen, nicht nur durch Wegfall der Einkomensteuer das leidige Problem der Hinterziehung durch Schwarzarbeit wegfallen lassen, nicht nur für übergroße Mehrheiten spürbare Steuererleichterungen (!) bringen (Genossin Kipping schätzte vor vielen Jahren zwei Drittel, heute dürfte der Anteil weit über drei Vierteln liegen) – nein, selbst das BGE wäre in menschenwürdiger Höhe bestreitbar. Denken wir uns als strukturell etwas »konservativere« Alternative eine Serienschaltung aus dem bestehenden (oder nur punktuell modifizierten) Steuersystem mit dem Take-half-Prinzip, so sehen wir (auch als Sauerländer Grundschüler, vielleicht mit Ausnahme Franz Münteferings) die sehr leichte Rechnung (die z. B. auch schon Verdi akzeptierte): Mit BGE-Höhe von 1.350 Euro und heutigem Nettoeinkommen von 2.600 Euro würden mir in einem Atemzug 1.300 Euro abgeknöpft (Take half) und zurückgegeben (BGE), ich hätte »individuell« »ökonomisch« weder Vor- noch Nachteile. Verdiente ich heute nur 2.500 Euro, stellte ich mich dann schon leicht besser, mit heute 2.700 Euro drückte ich mit verdammt gutem Gefühl per Saldo schon etwas mehr ab, als ich zurückbekäme. Hieße ich Hartmut Mehdorn oder wäre ich sonst ein Topmanager oder ähnlicher Mafioso, fiele die Differenz schon etwas deutlicher ins Gewicht. Und genau das wollen wir diesem »Herrn« oder seinesgleichen doch hoffentlich von Herzen wünschen! (Wir Gutmenschaspiranten wollen das jedenfalls.)

Und auf den Leserbrief vobn Roland Winkler antwortete B. May:

»Träumerei«: immer gerne. Ekkes Frank glaubt in einem Lied, dass, »wer nur an heute denkt, ein Träumer – und wer von morgen träumt, pragmatisch ist«. Doch wovon wir also träumen: Dieser Satz birgt einmal mehr die geballten Vorurteile gegen das BGE. Dieses will und wird weder von der nackten Existenzgrundlage noch vom Wohlstand »befreien«, sondern im Gegenteil den ganz offensichtlich möglichen Wohlstand so umverteilen, dass alle etwas davon haben – und zwar etwas mehr als die »Existenz«, um nämlich auch Teilhabe zu garantieren. Ob – und warum nicht – dabei eben auch von »Arbeit« befreit werden kann oder muss, ist die Frage. Ich sah noch kein BGE-Konzept, das »Arbeit« (mit Einkommen neben dem BGE oder über dieses hinaus) verboten hätte. Aufgehoben würde nur diese Zwangslage der Abhängigkeit, ja Erpressung, und diese historisch verständliche, aber reichlich veraltete und willkürliche Gleichsetzung von Arbeit und Existenz, welche ganz nebenbei alle Rentnerinnen, Pensionärinnen, Kinder, Jugendlichen, Studierenden und »Arbeits«-Unfähigen übelst diskriminiert (von den Erwerbslosen und der ihnen angeblich zumutbaren »Arbeit« ganz zu schweigen). Roland Winklers »Vorwurf der Faulheit« spricht Bände: Wer erhebt ihn wem gegenüber? Roland Koch (CDU), Franz Müntefering (SPD) oder Apostel Paulus? Und wofür sollten solche unkreativen Kleingeister maßgeblich sein? »Klippschule Sauerland« oder so (Müntefering) reicht wahrlich, um zu verstehen, was der Strauchdieb wollte, als er uns volle zwei Jahre Freizeit stahl (zwischen 65 und 67): nämlich Rentenkürzung heimtückisch von hinten. – Lafargue hingegen, der Marx als dessen Schwiegersohn noch kannte, forderte selbstbewusst das Recht auf Faulheit, das später Georges Moustaki in wunderschön vertontem Französisch besang: »... le droit à la paresse.« Verdanken wir Marx nicht nur den Begriff der Entfremdung (samt dessen auf die »Arbeit« bezogener Veranschaulichung)? Was, bitte, hätte Marx gegen eine Befreiung von entfremdeter Arbeit einwenden sollen?

Veröffentlicht in der jungen Welt am 15.08.2020.
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