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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Aus Leserbriefen an die Redaktion vom 03.08.2020:

Zum Leserbrief »Gefährliches Konstrukt«

»Gemütlich und bescheiden« soll gemäß dem »Zitat des Tages« vom 28. Juli zufolge die »Bonner Republik« gewesen sein. Die BRD – gemütlich und bescheiden? Ja und nein. Vor allem war sie ein nationsfreier Staat! Wie viele gibt es davon auf der Erde, und sollten sich nicht alle diese Freiheit gönnen? Staaten als nüchtern-rationale Konstrukte für erkennbare Zwecke; damals hübsch sperrig »Bundesrepublik« genannt statt fußballerisch »Schland«, eine definierbare Bevölkerung bergend statt eines schwurbeligen »Volks«: Das war und wäre in der Tat ungefährlicher und bescheidener! Und seit Willy Brandt Stoph getroffen hatte, gab es die Formel »Zwei Staaten – eine Nation«, wovon ich freilich nur die erste Hälfte verstand, die funktional ganz augenscheinlich zutraf: Die Züge von München nach Berlin oder Görlitz hielten in Probstzella oder Gutenfürst etwa 40 Minuten. »Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens. / Bildet dafür, ihr könnt es freier zu Menschen euch aus«, schrieb Friedrich Schiller, wovon ich nur das »hofft« nicht verstand: Ganz so unglücklich wirkten weder die Schweizer noch die Belgier in ihren charmant mehrsprachigen Staaten; und Friedrich Dürrenmatt (in »Romulus der Große«): »Vaterland nennt sich ein Staat immer dann, wenn er sich anschickt, auf Völkermord auszugehen.« Und sonst? War der »rheinische« Kapitalismus der gar nicht so schlechte Versuch, einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen? Der »danubische« vielleicht ein noch besserer: Österreich war neutral (und blieb bis heute formal NATO-frei), war EFTA-Partner Norwegens und Schwedens und ist so gemütlich und bescheiden, dass es sich stolz vor seinen Werktätigen und Landwirten sogar im Staatswappen verneigen kann (das freilich außer Hammer und Sichel auch die Bürgerkrone zeigt). 1984 kannte ich einen Möbelhändler in Baden-Württemberg, der seine Filiale im österreichischen Vorarlberg aus rententechnischer Überlegung beibehielt: Die danubische Republik zwang ihn im Unterschied zur rheinischen zu seinem Glück, Beiträge zu zahlen. Vielleicht mal Lindner von der FDP vorschlagen … 1970er Jahre im Westen: Mit Flower Power hatte sich das textilfreie Baden fast so flächendeckend eingebürgert wie in den Niederlanden, in Dänemark und der DDR: gemütlich und bescheiden eben – und frei. Mehr bescheiden im beschissenen Sinne als gemütlich waren die Bahn-Stillegungen 1960–1990, während die DDR ihr immerhin weltdichtestes Netz weitestgehend weiterbetrieben hatte. Und gar nicht mehr gemütlich war die Stationierung von US-Raketen bei Heilbronn und Mutlangen, von Marschflugkörpern bei Bell/Hunsrück, waren NATO-Manöver, bei denen schon mal ein Linienbus seitlich aufgeschlitzt wurde und Fahrgäste qualvoll starben. Gegen die NATO konnte sie niemand verteidigen. Und der weggebrochene »unsichtbare dritte Verhandlungspartner« am Tisch oder »Tarifpartner«? Wie erwecken wir den zu neuem Leben? Vielleicht durch Mitgliedschaft in linken Organisationen, deren Unterstützung durch Aktionen, Werbung, Wahlwerbung, Mitgliedsbeiträge? Ein dicker Brocken. Aber packen wir es an.
Bernhard May, Solingen
Veröffentlicht in der jungen Welt am 07.08.2020.