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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Geschichtswissenschaft: Den Toten die Wahrheit! vom 30.06.2020:

Viele dunkle Seiten und wenig Licht

Nicht jedem werden die Namen Hans Paasche und Hermann Poppert geläufig sein. Beide waren vor dem ersten Weltkrieg Antialkoholiker und Lebensreformer. Doch während sich Paasche schon vor dem Krieg und Antimilitaristen entwickelte und durch Einweisung in eine Heilanstalt dem aktiven Kriegsdienst entkommen konnte, ohne vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden (Er war Offizier), entwickelt sich Popert zu einem »nationalistischen Pazifisten«, wie ihn Paasche in einem Aufsatz von 1919 kennzeichnete. Dort schriebt Paasche, der 1920 von Freikorps ermordet wurde, in geradezu prophetischer Art über Popert: »Er dichtet mir deshalb die Gesinnung an, die denen angedichtet wird, die man heutzutage ›auf der Flucht‹ zu erschießen beliebt, und droht, mich, wenn ich mich nicht zurückhalte, durch Hinweis auf das, was ich wegen meiner pazifistischen Gesinnung in ›Großer Zeit‹ auf mich nehmen musste, unschädlich zu machen.« Paasche war nach 1918 kurzfristig Mitglied des Berliner Soldatenrats.
Für Alt-68er: Paasches bekanntestes Buch stammt von 1913 heißt: »Die Forschungsreise des Lukanga Mukara ins innerste Deutschland«und ist ein Vorbild des »Papalagi«, der erst 1920 erschien (und in der beginnenden »grünen« Bewegung der 70er wieder viel gelesen wurde). Eine Plagiatsvorwurf gegen den »Papalagi« wurde nie entschieden.
Poperts »Pendant«, der »Harringa« wird in der Literatur u. a. so beschrieben: »In dem 1910 erschienenen Roman ›Helmut Harringa‹ zieht der Autor Hermann Popert, der aktiv im Guttempler-Orden mitarbeitete, gegen die sich im Zeichen der Industrialisierung ausbreitende Alkoholsucht zu Felde. An zwei Beispielen demonstriert er die verheerenden Auswirkungen des Alkoholismus. In beiden Fällen gehören die Opfer dem ›Nordlandsblut‹ an, dem Popert besondere charakterliche Hochwertigkeit beimisst. Sie entsprechen damit dem Idealbild von Menschen, wie sie die völkische Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg propagierte. Der Autor zeichnet die Zukunftsvision einer von Alkohol befreiten Welt, in der ein gesundes, starkes, freudiges und freies ›Volkstum‹ herrscht. So sehr Popert völkischen Maximen folgt, so wenig darf übersehen werden, dass sein Roman auch in den Kontext jener Reform- und Suchbewegung innerhalb des deutschen Bürgertums jener Zeit gehört, die den Ursachen sozialer Verwerfungen nachging und bemüht war, Auswege aus einem so gravierenden Dilemma wie der Alkoholsucht aufzuzeigen.« (Kai Detlev Sievers, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, September 2004)
Paasche gehört also zu dem kleineren, aber durchaus fortschrittlichen Teil der Jugendbewegung. Auf keinen Fall gehört er zu dem »Wandergeflügel«, das kurz nach der »Meißnerformel« von 1913 begeistert in den Krieg zog (»Langemarck«).
Der im Artikel von Donath kritisierte Christian Niemeyer ist schon einige Jahre zuvor dadurch aufgefallen, dass er den deutschen Wandervogel in Bausch und Bogen als Vorläufer der Hitlerjugend bezeichnet hat (»Die dunklen Seiten der Jugendbewegung – Vom Wandervogel zur Hitlerjugend«). Ja, es gibt viele dunkle Seiten und nur wenig Licht in den bürgerlichen Reformbewegungen des 20. Jahrhunderts. Aber wenn es jemanden gab, auf den sich diese Bewegung heute noch positiv beziehen kann, dann ist es Paasche. Popert dagegen gehört eindeutig zur »dunklen Seite der Macht«.
Eike Andreas Seidel