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Leserbrief zum Artikel Rassismus: Vererbter Wahn vom 17.06.2020:

Starker Tobak

Seit wann kann ein politisch-ideologischer »Wahn« »vererbt« werden? Der erste Absatz suggeriert, dass »menschliche Rassen« und der »Rasse«-Begriff erstmals im 19. Jahrhundert Gegenstand von Wissenschaft waren. Tatsächlich wurden protorassistische Bezeichnungen bereits im 17. Jahrhundert benutzt, definierte Immanuel Kant (1724–1804) im Jahre 1775 erstmals im deutschen Sprachraum für den Homo sapiens den Begriff »Rasse« und beschrieb vier »Rassen« ausführlich. Im selben Jahr beschrieb Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) vier, später fünf »Varietäten« derselben Art. Sowohl Kants als auch Blumenbachs Klassifikationen entsprachen dem durch Reisebeschreibungen und farbige Abbildungen immens gewachsenen Wissen um die verschiedenen Menschen der Erdgegenden und der wissenschaftlichen und ökonomischen Notwendigkeit zur Klassifikation aller »Naturprodukte«, einschließlich der Menschen, im Zeichen des Zeitalters Carl von Linnés (1707–1778), waren mithin völlig legitim. Zudem kamen beide Klassifikationen mit biologischen Merkmalen aus, verwendeten also keine geistigen oder kulturellen Merkmale. Kants »Rasse«-Begriff stellte zudem einen »Fortschritt« gegenüber dem seinerzeit üblichen Begriff der »Varietät« dar, da er sich nicht mehr wie letzterer auf Ähnlichkeit, sondern auf biologische Verwandtschaft bezog, also ein evolutives Element in sich barg. Bei Blumenbach, Kant und Georg Forster (1754–1794) zeigte sich ein unterschiedlicher Umgang mit »Rasse«. Während ersterer bei einer rein systematisch-taxonomischen Fassung blieb, dabei die Einheit der Menschheit und die fließenden Übergänge zwischen seinen »Rassen« betonte sowie vor Missbrauch warnte, bot sich Kant als plumper Rassist dar, indem er im nachhinein geistige und kulturelle Merkmale mit seinen »Rassen« verknüpfte, Forster aber als moderner bürgerlicher Rassist, indem er zwar lautstark gegen den »Rasse«-Begriff argumentierte, aber mit schönen Worten eine »weiße« Vormundschaft über die »schwarzen« Menschen salonfähig zu machen suchte, was bis heute meist unbemerkt blieb, dennoch praktiziert wird. Darwins Buch als »Meilenstein« zur »Rechtfertigung des Rassismus« zu bezeichnen und Darwin nur lau gegen den Missbrauch seines Buches durch die Sozialdarwinisten zu verteidigen, ist schon starker Tobak. Natürlich galt auch die Selektionstheorie für den Homo sapiens über die meiste Zeit seiner Existenz, nur zeigt die offenbare Notwendigkeit des Sozialdarwinismus für die bürgerliche Gesellschaft, dass diese nicht mehr durch biologische, sondern gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird, die zwecks Machterhaltung hinter ersteren verborgen werden sollen. Ernsthaft zu glauben, dass sich Rassismus in einer solchen Gesellschaft aus den Köpfen bringen lässt, heißt Wunder annehmen.
Michael Wallaschek, Halle (Saale)
Veröffentlicht in der jungen Welt am 18.06.2020.