Leserbrief zum Artikel Bundeswehr in der Coronakrise: »Sie steht da wie der Kaiser, komplett nackt«
vom 06.05.2020:
Ruf des Vaterlands
Gerade rechtzeitig vor dem »Tag der Pflegenden« scheint die Bundeswehr sich in Zeiten der Pandemie mit »Logistikaufgaben und Einsätzen an Patienten« und dem Slogan »Das Vaterland ruft« als »helfende Hand« den Notstand verstärkt zunutze machen zu wollen, um nicht nackt dazustehen und sich als unentbehrlich zu legitimieren. So die ganzseitige Schau in der hiesigen Oberhessischen Zeitung vom 5. Mai. Hört man gewöhnlich von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, so richtet sich jetzt der Fokus aufs Landesinnere. Im zivilen Bereich hat man wohl ein erweitertes Einsatzgebiet gefunden. »Das Vaterland ruft« mal wieder, heißt es da ganz ungeniert geschichtsvergessen, und Soldatinnen und Soldaten seien als »helfende Hände« im Alten- und Pflegeheim im Einsatz bei der »Essensausgabe, beim Bettenmachen oder der Betreuung unter Anleitung des Fachpersonals«. Übrigens alles sinnvolle Tätigkeiten, für die wir als sogenannte »Zivildienstleistende« (Kriegsdienstverweigerer) einst im weißen Kittel in Alten- und Pflegeheimen täglich im Einsatz waren. Und zumal die Bundeswehr laut offizieller Verlautbarung diese Amtshilfe nur gewähre, wenn das zivile Personal nicht ausreiche, kann ich schon gar nicht verstehen, dass man junge Menschen erst in eine Militäruniform stecken muss, um einen gesellschaftlichen Notstand zu mildern. Warum kann man dann den jungen Leuten nicht gleich das Angebot mit weißer Pflegedienstkleidung machen und ihnen eine qualifizierte Zukunftsperspektive eröffnen, womit uns allen gedient wäre? Nicht das Vaterland ruft also, sondern die gesellschaftliche Verantwortung für die Gewährung und Sicherung hinreichender Daseinsvorsorge!
Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.05.2020.