Leserbrief zum Artikel EU-Abschottung: Schlechtes Theater
vom 20.04.2020:
Menschlich-moralisches Versagen
Da rühmen sich die Vertreter der EU, allen voran die der BRD, dass inzwischen 47 minderjährige unbegleitete Kinder aus den völlig überfüllten griechischen Flüchtlingslagern in Deutschland aufgenommen wurden. Das Ereignis wurde mit großem publizistischem Aufwand in Szene gesetzt. Wie lange hatte die EU-Flüchtlingskommission um die Verteilung der Kinder auf die einzelnen EU-Länder gefeilscht! Schon vor Wochen sollten 50 Kinder in der BRD ankommen. Das wurde von UNICEF als »Geste der Menschlichkeit« bezeichnet. Was wird aus mindestens 1.500 Flüchtlingskindern, die im Lager verbleiben müssen, was aus ihren Eltern und Geschwistern , aus vielen tausend Familien, die in diesen Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen leben, immer auch in Gefahr, durch das Corona-Virus infiziert zu werden, bei völlig unzureichenden hygienischen Standards? Wie kann in solchen Lagern ein Mindestabstand von zwei Metern eingehalten werden, wie eine Maskenpflicht? Der deutsche Botschafter Reichel versprach, »in nächster Zeit bis zu weitere 500 Kinder nach Deutschland einreisen zu lassen. In diesem Zusammenhang sprach auch er von »wichtiger menschlicher Geste«. Indessen hatte noch vor kurzem der griechische rechtsgerichtete Premier Mitsotakis Flüchtlingsboote durch seine Marine angreifen lassen. In diesen Zusammenhängen drängt sich mir die Erinnerung auf an die rund 10.000 Kinder, die unmittelbar nach den Novemberprogromen 1938 aus Nazideutschland mit einem in nur wenigen Tagen organisierten Transport nach England gebracht und so vor dem Holocaust gerettet wurden (»Refugee Children Movement«). Die Kinder wurden in Berlin gesammelt, und in Frankfurt am Main wurden dann die Fahrten aus den einzelnen Regionen zusammengestellt. Das war eine einmalige großartige Hilfeleistung, durch die die Kinder oftmals als einzige der Familie überleben konnten. Damit verglichen, ist das große »Menschlichkeitstheater« (jW), das mit viel Publicity von der EU veranstaltet wurde, beschämend und demonstriert ein moralisches wie politisches Versagen.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 22.04.2020.