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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Bob Dylan: Unter Vertrag beim Weltgeist vom 09.04.2020:

Mythos Kennedy

Stefan Siegert schreibt: »Zu den ›Unpaid debts‹, den Außenständen in Dylans Text, welche die vom tiefen Staat bezahlten Killer per Kopfschuss bei Kennedy eintrieben, gehörte die friedliche Einigung mit dem Systemkonkurrenten, den es nach Meinung der Auftraggeber auszulöschen, nicht aufzuwerten galt. Mit Kennedy, dessen Tod sich Dylan voller Mitgefühl widmet, starb die Hoffnung, vielleicht die Illusion, auf ein zum friedlichen Zusammenleben der Völker bereites Yankee-Amerika auf Nimmerwiedersehen.« Der Abschnitt reproduziert Dylans Position, Kennedy sei durch seine Ermordung bestraft worden für seine – ich überspitze, um den Punkt zu markieren – Friedenspolitik in der Kuba-Krise. Lediglich der Einschub »vielleicht die Illusion« relativiert – und das auch nur im Modus der Möglichkeit – diese Sicht auf den historischen Gegenstand. Ich meine hingegen, der »Mythos Kennedy« [1] ist auf der Basis heute zugänglicher Quellen hinreichend analysiert und kritisiert. Kennedy war oberster politischer Repräsentant eines aggressiven US-Imperialismus und hat gerade in der sogenannten Kuba-Krise als solcher agiert, auch wenn es der zeitgenössischen Propaganda gelang, dies zu verschleiern. Dylan an dieser Stelle für seine unbelehrte (unbelehrbare?) Sicht auf die Dinge zu kritisieren, seine Motive für diesen blinden Fleck zu erörtern und den damit einhergehenden ideologischen Charakter der Stelle offenzulegen, wäre nicht nur eine |Möglichkeit», sondern Aufgabe der jW gewesen.
Ich zitiere aus einem Buchkapitel über »Außenpolitik und Moral« von Ekkehart Krippendorff [2]. Krippendorff selbst war als Zeitgenosse 1964 begeistert vom »Modell Kennedy« [3]. Jahrzehnte später rekonstruiert er die Rolle Kennedys in der Kuba-Krise wesentlich kritischer – entlang der Darstellung in der einschlägigen Monographie von Seymour M. Hersh [4]: »An der prinzipiellen Bereitschaft des als besonders aufgeklärt und rational geltenden Präsiedenten John F. Kennedy und seiner überwiegend intellektuell-akademischen Berater (›Eggheads‹), Atomwaffen nicht nur als Drohmittel, sondern sie auch real einzusetzen, kann kein ernsthafter Zweifel mehr bestehen.« (S. 94) John F. Kennedy hatte 1961, kaum im Amt, mit der fehlgeschlagenen Invasion von US-unterstützten Konterrevolutionären in Kuba eine schwere politische Niederlage erlitten. Der sowjetische Regierungschef Chruschtschow meinte, bei dem jungen Präsidenten Führungsschwäche erkennen zu können, die er zur Stabilisierung des »sowjetischen Satelliten« DDR ausnützen wollte; mittels eines »Friedensvertrags« hoffte er, die Westmächte aus Westberlin zu vertreiben. Bei dem Gipfeltreffen zwischen den beiden Staatsmännern im Mai 1961 in Wien behandelte Chruschtschow »Kennedy mit Verachtung«, so James Reston, der vom Präsidenten ins Vertrauen gezogen worden war. Kennedy »fühlte, dass er handeln müsse«. Später sagte er zu Reston: »›Jetzt kam es darauf an, Härte zu zeigen, und der Ort, an dem das sein sollte, war Vietnam!‹ Ich [Reston] war sprachlos.« (Vietnam war zu diesem Zeitpunkt noch weit davon entfernt, ein Hauptkonfliktherd zu sein.) Insbesondere aber hat Kennedy seinem sowjetischen Gesprächspartner deutlich gemacht, daß er zum Atomkrieg bereit war – in dem innerhalb von zehn Minuten 70 Millionen Menschen um Leben kämen, wie er diesem vorrechnete. (S. 95) Kennedy »schämte sich« vor seinem Gegner für das Debakel bei der Schweinebucht-Invasion, aus dem Kuba und Fidel Castro gestärkt und als Bündnispartner der Sowjetunion hervorgegangen waren. Diese Scharte musste ausgewetzt werden. Das als persönliche Schmach wahrgenommene Fiasko wurde nun in eine globale militärisch-strategische Herausforderung der sowjetischen Führung umfunktioniert. Chruschtschow hatte ihn geringschätzig behandelt – jetzt sollte er seinerseits dafür öffentlichkeitswirksam gedemütigt werden. Die Gelegenheit dazu bot die leichtfertige, wenn auch wegen der ständigen US-amerikanischen Invasionsdrohung verständliche Stationierung atomar bestückbarer sowjetischer Langstreckenraketen auf Kuba. (S. 96) John F. Kennedy gelang es in der Tat, Chruschtschow öffentlich zu demütigen: Sein Widersacher spielte das amerikanische »Chicken-Spiel« nicht mit und gab nach; diese »Blamage« trug später entscheidend zu seinem Machtverlust bei – und zur Eröffnung einer weiteren Aufrüstungsspirale. Dass es Kennedy um die Desavouierung seines Gegenspielers ging, während er gleichzeitig hinter dem Rücken selbst seiner Berater mit Chruschtschow Kompromisse aushandelte, hat Hersh in »The Dark Side of Camelot« minutiös rekonstruiert. Am Ende – und vor der Geschichte – steht der »kastrierte« Chruschtschow als Beispiel skrupulöser politischer Vernunft da und der »siegreiche« Kennedy als rücksichtsloser Risikospieler. (S. 98)
[1] vgl. Euskirchen, Markus, Maischak, Lars: Vernunft und Moral – Plädoyer für einen rigorosen Universalismus; in: Oliver Jarasch, Thomas Greven (Hg.): Für eine lebendige Wissenschaft des Politischen. Umweg als Methode, Frankfurt/M. (Edition Suhrkamp, 02129) 1999, 118–128; online: http://www.euse.de/links/vernunft_und_moral.pdf
[2] Krippendorff, Ekkehart: Kritik der Außenpolitik. Frankfurt am Main
(Edition Suhrkamp 02139) 2000, 85–106
[3] Krippendorff, Ekkehart: John F. Kennedy – Vision und Wirklichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 4 (1964), 3–15
[4] Hersh, Seymour M.: The Dark Side of Camelot, Boston 1997
Markus Euskirchen

Kommentar jW:

Zu diesem Leserbrief gibt es folgende Antworten:

Lieber Genosse Euskirchen, den fraglichen Dylan-Beitrag habe ich gar nicht gelesen, weil ich diesen pseudointellektuellen Nuschelkopp für maßlos überbewertet halte. Was Joan Baez geritten hat, sich für dieses künstlerische Nichts zu verwenden, weiß sie wohl nicht mal mehr selbst. Aber zurück zu Kennedy: Dieser sagte nach der Kuba-Krise sinngemäß, dass man sich bei Konflikten auch in die Lage seiner Gegner hineinversetzen müsse, um deren Interessen verstehen zu können, wobei er die UdSSR explizit nannte. Das deutet zumindest auf ein Überdenken seiner Politik gegenüber der Sowjetunion weg von direkter militärischer Konfrontation zu einer Art Aggression auf Filzlatschen à la Egon Bahr hin. Möglicherweise hat ihm das kurze Zeit danach das Leben gekostet. Bahr ist später für seine letzlich erfolgreiche Strategie zwar nicht erschossen, aber regelrecht angespien worden. Die Meinung, der Westen in Gestalt Kennedys habe den Osten in der Person Chruschtschows »gedemütigt«, hast Du aber exklusiv. Richtig ist, dass die UdSSR ihre Raketen von Kuba abzog. Im Gegenzug mussten die USA aber einige Raketen, die direkt sowjetisches Territorium erreichen konnten, zurückziehen. Quasi ein Nullsummenspiel. Diesen Fakt hat die Westjournaille immer schamhaft unter den Tisch fallen lassen. Da bist Du wohl der Propaganda des Klassenfeindes aufgesessen. Nichts für ungut!
Jürgen Marschall

Der Briefeschreiber stützt seinen Angriff auf »Berater J. Reston«, um Weltgeschichte als »Privatmatch« zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow darzustellen. Er fordert Korrektur der jW und unterschlägt en passent den Abzug der US-Raketen aus der Türkei. US-Außenpolitik wurde nach Franklin D. Roosevelts Tod 1945 wesentlich durch die Dulles-Brüder, verbunden mit Wall-Street-Interessen, dominiert. Kennedy wollte sich von CIA-Chef Allen Dulles trennen. Einen Tag nach Ernennung von Vizepräsident Lyndon B. Johnson zum Nachfolger Kennedys wurden diesbezügliche »Finanzgesetze« aufgehoben. Für »neue und Jungleser« der jW sollte eine Doppelseite her. Vor allem, was das »Cui bono« betrifft: Erhalt des britischen Weltreichs (Churchills erste Rede in den USA nach dem Krieg).
Wolfgang Richel, Wuppertal

Veröffentlicht in der jungen Welt am 15.04.2020.