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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel E-Mobilität: Verzögerter Baubeginn vom 18.02.2020:

Giga und gaga

Unklar bleibt, wen Bernd Müller mit seinen Artikeln zum Tesla-Skandal Grünheide erreichen will. Dort passiert doch Sonderbares. Fällt ihm das nicht auf? Alle Parteien im Land- und Kreistag sind für die Tesla-Ansiedlung. Keine Opposition. Die Bürger Grünheides wurden vor keiner Entscheidung gefragt. Noch zur Bürgermeister-Stichwahl vom 15. September ahnen sie nicht, was ihr erfolgreich wiedergewählter Bürgermeister Christiani bereits längst vor der Wahl wusste, Ihnen aber verheimlichte. Erst am 12. November durch die Medien von Elon Musk selbst wird es ihnen bekannt: Ihr Lebensraum in einer lieblichen, naturbelassenen und geschützten Heidelandschaft soll sich in eine Industrielandschaft verändern. Dass sie im Einklang mit der Natur leben wollen und ihre Arbeitsplätze im Gesundheits-, Medizin- und Pflegebereich rings um ihren größten Arbeitgeber, die Median-Reha-Klinik, gesichert und erweitert wissen wollen, interessiert da nicht. Wird Grünheide zu einer gigantischen Industrielandschaft, sind diese in Gefahr! Keine Partei, kein Abgeordneter des Land- oder Kreistages (mit einer Ausnahme) nimmt sich ihrer an. Sie gründen eine Bürgerinitiative www.bi-gruenheide.de, um sich zu artikulieren. Sie erhalten Unterstützung von Künstlern, Wissenschaftlern und Verbänden. Eine qualifizierte Website, Fernsehen und tendenziöse Presse meidet ihre Argumente und verwehrt ihnen eine faire und ausgewogene Berichterstattung. Statt gehört zu werden, werden sie bedroht, verhöhnt und in die rechte Ecke gestellt, von der sie sich von Anfang an ausdrücklich und mit Erfolg distanziert haben. Selbst vor dem Brandenburger Verwaltungsgericht werden sie am 14. Februar nicht gehört. Über die Medien verlacht. Erst als am 15. Februar das Oberverwaltungsgericht ihnen auf eine Klage der Grünen Liga hin Gehör verleiht, wird die Vernichtung ihres Lebensraumes, ihres Ökosystems gestoppt, zumindest vorübergehend.
Worum geht es den Menschen? Ihr Lebensraum liegt rings um das oder im Landschaftsschutzgebiet »Müggelspree/Löcknitzer Wald-
und Seengebiet«. Entlang dem Flusslauf der Müggelspree ist es von naturbelassenen Kiefernwäldern und Flora-Fauna-Habitaten gesäumt. Glasklaren Seen, die seit dem 19. Jahrhundert als Perle des stillen Tourismus im Berliner Umland gelten, bilden den Reiz einer einzigartigen Landschaft, die in ihrem Kern das Naturschutzgebiet Löcknitztal hütet, das mit seinem Reichtum an endemischen Arten sich unter Naturfreunden weltweiter Bekanntheit erfreut. Unweit davon, in einem naturbelassenen Wald am Rande der Spree, soll nun eine gigantische, nach Tesla-Angaben die weltgrößte Industriefabrik gebaut werden. Die Landschaft, das LSG, wird dazu einer Industrie-, Verkehrs- und urbanen Infrastruktur weichen müssen, die einen vorläufigen Flächenbedarf von 406 Hektar mit 260 Hektar versiegelter Grundfläche im ersten Bauabschnitt haben wird. Die CO2-bindende und Sauerstoff freisetzende Waldfläche soll in eine Schadstoff emittierende, versiegelte Industrielandschaft gewandelt werden. Das Waldklima wird sich erhitzen und städtische Klimamerkmale annehmen, die mit Sicherheit das Mikroklima über dem LSG aufheizen lassen. Weiterer Flächenbedarf ist angemeldet. Dazu kommen eine nicht abschätzbare Schadstoffbelastung durch ein erheblich anwachsendes Verkehrsaufkommen und die Auswirkungen des in unmittelbarer Nähe zu Grünheide entstehenden Großflughafens BER mit dessen zu erwartenden Schadstoffemissionen. Die Einwohnerzahl von 8.500 in den Heidedörfern, rings um das Löcknitztal gestreut, soll sich nun in kürzester Zeit mindestens verdreifachen. Spekulation nach Bauland und Wohnraum blüht auf.
Aber das ist nur die halbe Bedrohung. Tesla will seine Gigafactory nicht nur mitten im Walde, sondern über einem Trinkwasserschutzgebiet höchster Schutzgüte entstehen lassen. Dieses ist von enormer Bedeutung für die Trinkwasserversorgung Berlins und wird vom Abwasserzweckverband Strauberg-Erkner (WSE) bewirtschaftet. Dieser erklärte am 5. Februar in einer vielbeachteten öffentlichen Vollversammlung, dass der 3,3 Millionen Kubikmeter Wasser im Jahr umfassende Bedarf Teslas –
der einer 72.200 Einwohner umfassenden Stadt entspricht (nicht 60.000, wie jW falsch berichtet!), bei gleichzeitig bestehenden Versorgungsleistungen für Bevölkerung, Landwirtschaft etc. nicht annähernd gewährleistet werden kann, ohne die ohnehin schon rückläufige Grundwasserneubildung irreversibel zu schädigen. Eine solche Erhöhung der Förderquoten hätte zur Folge, dass die Versorgung der Bevölkerung eingeschränkt werden müsse und die Natur mit ihren Schutzflächen nicht mehr in ausreichendem Maße mit Wasser durchströmt werden würde. Ganze Seen wie der in unmittelbarer Nähe zum Trinkwasserschutzgebiet gelegene international bekannte und beliebte Störitzsee oder das FHH-Gebiet Herrensee könnten austrocknen. Doch Umweltminister Vogel gab am 14. Februar prompt die nicht mit Wasservorkommen gedeckten Förderquoten. Daraufhin erfolgte noch vor Erteilung der Baugenehmigung durch das Landesamt für Umwelt (LfU) grünes Licht zum Abholzen von 92 Hektar Wald über dem Wasserschutzgebiet. 48 Hektar Wald sind bereits gefallen. Gefällter Wald und Grundwasserverfügbarkeit stehen aber in Wechselwirkung. Würden beide Großprojekte BER und Gigafactory in ihrer ökologischen Verflechtung verwirklicht werden, hätte dies neben katastrophalen Klimafolgen für Ostbrandenburg auch die Vernichtung des Ökosystems Grünheide und des größten Teils des 240 Quadratkilometer großen LSG Müggelspree/Löcknitzer Wald- und Seengebiet zur Folge. Ist es also abwegig, wenn die Menschen um Grünheide, zwischen Strausberg, Königs Wusterhausen und Frankfurt, es zwar begrüßen würden, wenn Tesla-Fertigungsstätten etwa in der Lausitz oder im Raum Frankfurt (Oder) bzw. Eisenhüttenstadt entstünden, um nachhaltige Arbeitsplätze dort zu schaffen – nicht aber in Grünheide? Aber genau diese immer wieder gestellte Frage wird mit einem Geheimhaltungsabkommen zwischen Landesregierung und Tesla beantwortet, wenn fremde Standorte oder gar die Forderung
nach einem Raumordnungsverfahren laut werden. Und mit diesem Totschlagargument war alles erlaubt, weil geheim, vom voreiligen Flächenverkauf eines 300 Hektar großen Waldes als verfügbare r Industriefläche an Tesla über die unzureichenden Antworten, die Tesla in Anhörungen Bürgern gab, bis zur Erteilung der vorgezogenen Fällgenehmigung des Waldes. Und nun, nachdem alle Fakten gesetzt sind, dürfen die Bürger bis zum 5. März ihre Einwendungen zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) machen. Welch Hohn auf Demokratie und Mitbestimmung! Das alles stört Bernd Müller in nicht einem Satz. Er sorgt sich am 14. Februar mit dem finanzpolitischen Sprecher der Partei Die Linke, Ronny Kretschmer, um die Höhe des Kaufpreises. Ein Streit um Silberlinge, wenn er ins Verhältnis zu den ökologischen Gesamtkosten gestellt werden würde, die die Steuerzahler für die Vernichtung ihrer Heimat zu zahlen hätten. Und am 18. Februar bedauert Müller den »Verzögerten Baubeginn«, der Tesla einen Risikobericht an die US-Börsenaufsicht abnötigt, bevor er FDP-Politiker Luksic darüber schwätzen lässt, »Klagemöglichkeiten gegen Umweltschützer zu beschneiden«. Schlimmer geht es nicht, junge Welt! Ihr reiht Euch ein in die Schar derer, die tendenziös »Giga« schreien – und merkt euer »Gaga« nicht.
Rolf Lindenhahn
Veröffentlicht in der jungen Welt am 20.02.2020.
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  • Warum ausgerechnet dort?

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    Gerhard Ulbrich
  • Blinder Aktionismus

    Es ist eine absolute Unsitte geworden, aus politischem Kalkül Genehmigungen für einschneidende Vorbereitungsmaßnahmen zu erteilen, bevor das eigentliche Projekt die letzte juristische Hürde überwunden...
    Peter Richartz, Solingen