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Leserbrief zum Artikel DGB-Jahresauftakt: Hauptsache armutsfest vom 22.01.2020:

Komplizen des Kapitals

Besonders bemerkenswert ist der obige Bericht nicht etwa, weil er uns irgendwelche grundlegenden neuen Informationen oder gar Erkenntnisse liefern würde. Gleichwohl lassen sich darin aber um so klarer die alles andere als klassenkämpferischen Positionen der Einzelgewerkschaften wie ebenso die fast schon traditionell zu nennende starke Kapitalkomplizenschaft des DGB erkennen. An zwei Textstellen kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck. So werden jahrelange brutalste EU-weite Austeritätsdiktatur, skrupellose Ausplünderung ganzer Länder und deren Volkswirtschaften, grassierende Ausbeutung ärmster Bevölkerungsgruppen und deren weitere Verelendung bis hin zu branchenspezifischer länderübergreifender Sklaverei sowie der nicht oder zumindest bei weitem nicht genügend stattgefundene organisierte Aufstand der Gewerkschaften gegen all diese Verbrechen und Verbrecher geradezu zynisch und lapidar als »Fehler« kaschiert.
Weiter unten im Text werden dann ohne jedwede Erläuterungen oder gar Begründungen »60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns« als »armutsfest« erklärt. Perfiderweise wird hier bewusst auch noch der »Median« als Berechnungsbasis herangezogen, der um so weiter unterhalb des »arithmetischen Mittelwertes« (gleich »Durchschnittswert«) liegt, je ungleicher die Einkommensverteilung nach oben hin ist bzw. sich vermutlich noch weiter entwickeln wird (gleich stark asymmetrische »rechtssteile« Verteilung). Aber wer kennt schon den Unterschied zwischen diesen beiden statistischen Parametern?
Eine in ihrem Kern ebenso markante wie bedeutende Textstelle bedarf aber ebenfalls noch der unbedingten Erwähnung, nämlich der Verweis auf die aktuelle Klassenkampfsituation in unserem unmittelbaren Nachbarland Frankreich und die daraus resultierende Erkenntnis, dass Kampfwille und Kampfkraft der Arbeiterschaft doch wohl weniger vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad an sich sowie der Höhe und der Dauer des Streikgeldes abhängen dürften als offenbar in viel stärkerem Maße von den historischen Kampferfahrungen, den daraus gewonnenen Erkenntnissen und dem sich schließlich aus beidem gebildeten kollektiven Gedächtnis bzw. formierten Klassenbewusstsein.
Reinhard Hopp
Veröffentlicht in der jungen Welt am 23.01.2020.