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Leserbrief zum Artikel Porträt: Saustall des Tages: Deutsche Debattenkultur vom 30.12.2019:

Ohne Beißreflexe

Es ist nicht leicht, auf einen Beitrag in einer Glosse zu reagieren, der »Saustall des Tages« heißt. Ich möchte es dennoch tun, da mir eine Argumentationsrichtung in dieser Debatte bislang fehlt.
Sie, lieber Herr Stemmler, schreiben, dass noch eindeutiger als in dem Lied des Chores »Satire nicht sein« könne. Sie beziehen sich auf die Textzeilen eines Liedes mit dem Titel »Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad«, und die Oma sei eine »alte Umweltsau«, einem Lied, das niemand ernsthaft ernst nehmen kann. Es ist offensichtlich, dass es sich um Klamauk handelt, um einen im Grunde recht unsinnigen Witz. Vermutlich ist noch zu keiner Zeit irgendeine relevante Anzahl älterer Damen im Hühnerstall mit einem Moped herumgeknattert, so dass es sich erübrigt, davon persönlich irgendwie betroffen zu sein.
Klamauk kann der Zuhörer gut finden oder nicht. Es ist eine individuelle Reaktion, die im ausschließlichen Befinden dieser Person liegt. Es ist privat.
Nun bezeichnen Sie (und der Chorleiter des Kinderchores und andere auch) das umgedichtete Lied als Satire. In diesem Moment folge ich Ihrer Polemik nicht mehr. Damit überhöhte der Chorleiter, ebenso wie Sie, nach meiner Meinung das Lied unangemessen auf eine Kunstform, die deutlich mehr ist als nur Klamauk oder Unsinn. Jeder kann gern trällern, dass seine Oma im Hühnerstall Motorrad fährt, und gern auch, dass sie eine alte Umweltsau sei, aber ich würde es nicht als Satire bezeichnen.
Satire bezeichnet seit der Antike eine Kunstform, die Missstände überhöht und Moralvorstellungen in Frage stellt und die dabei meist Mittel des Spottes oder der Ironie verwendet. Satire hat aber noch eine zweite Bedeutung, die in der aktuellen Diskussion meist ausgeblendet wird: Satire spricht Dinge bei Personen an, die sich in Machtpositionen befinden. Gibt es Satire über Obdachlose? Ich hoffe nicht. Gibt es Klamauk über Obdachlose? Ich denke ja.
Es gibt viele Filme und Texte, die sich des Stilmittels bedienen und Nonsens oder Klamauk verwenden. Louis de Funes beispielsweise lockt in einem seiner Filme Außerirdische an, indem er furzt. Niemand wird auf die Idee kommen, dies als Verweis auf gelegentliche Flatulenz bei Senioren zu identifizieren und sich dadurch beschwert fühlen.
Mit dem Verweis auf die Satire werden das Gesagte und das Gemeinte identisch. Satire ist schön: Während die Zuschauer eines satirischen Stückes über einen tollpatschigen Darsteller lachen, weiß jeder, dass damit eigentlich irgendeine andere Person aus der öffentlichen Wahrnehmung gemeint ist. Satire bezog sich auf Gestalten wie Napoleon oder Hitler, auf Diktatoren und auf Mächtige, die ihre Macht ausnutzen, die Wasser predigen und Wein saufen. Charlie Chaplin spielt im »Großen Diktator« als Anton Hynkel mit dem Erdball. Ich lache über Chaplin und seine Tanzeinlage mit dem Planeten, die von Klängen Wagners orchestriert wird. Ich lache aber ebenso über Hitler, über seine Großmachtphantasien und den absurden Gegensatz zu seinem lächerlichen Verhalten, seiner Art zu sprechen und zu gestikulieren. Gleichzeitig bleibt mir angesichts der Schrecken des nationalsozialistischen Terrors das Lachen im Halse stecken.
Satire vollzieht sich nach meiner Meinung hierarchisch von unten nach oben. Satire ist deswegen ein Element politischer Debatten, und das war sie bei Heinrich Heine oder Robert Gernhardt. Möglich ist auch, bestimmte Verhaltensweisen kollektiv vorzuführen, zum Beispiel durch die Kategorisierung »des Spießers«. Das ist alles völlig in Ordnung und in jedem Fall von der Kunst- und Meinungsfreiheit gedeckt.
Nun bezieht sich das Liedchen auf die »Omma«, und es ist die berechtigte Frage, ob damit jede Oma gemeint ist oder die Oma in uns allen oder wer auch immer. Wenn nun tatsächlich gemeint sein soll (und dies auch so kontextualisiert wird), dass ausschließlich eine bestimmte Generation »Umweltsau« sei, dann verkennt das allerdings die Realität und ist nach meiner Meinung nicht mehr satirisch. Jetzt werden kollektiv alle Älteren angeprangert, unabhängig von ihrem Denken und Handeln. Das »Recht der späten Geburt« nimmt Jüngere von der Kritik aus, während selbst die spartanisch lebende Hausfrau ohne Handy und SUV sich im schlimmsten Fall angesprochen fühlen darf. Das muss sie nicht, wenn es Jux und Dollerei ist, dann ist es belanglos, und niemand wird sich auf den Schlips getreten fühlen. Die Zuschreibung als Satire überhöht den Klamauk zu einem Politikum.
Die Reaktionen sind bezeichnend. Auch Sie, lieber Herr Stemmler, beklagen die Debattenkultur, die sich an diesem Lied exemplarisch zeige. Doch Sie sind Teil dieser Debatte, und Sie verweisen eben auch auf den satirischen Gehalt.
Nun ist die simple Frage: Ist »die Omma« die richtige Adresse für die notwendige Kritik am kollektiven Konsumverhalten der reichen Westeuropäer und anderer? Oder ist die Macht nicht eine Kategorie, die quer durch die Altersgruppen verläuft? Macht ist nicht kausal an Alter gebunden, sondern an Besitz von Kapital. Natürlich – darauf weist die junge Welt regelmäßig hin – verfügen viele ältere Frauen in Deutschland nicht über Kapital, sondern sind auf Transferleistungen angewiesen, die häufig nur für das Nötigste reichen, teilweise nicht einmal dafür. Es sind nicht »die« Omas, die schonungslos die Umwelt versauten und noch versauen. Genausowenig sind »die Ausländer« kriminell. Verantwortlichkeit kollektiv an eine Gruppe zu delegieren, zu der ich per Definition nicht gehöre, stellt eine verkürzte Antwort auf die zahlreichen Fragen unserer Zeit dar.
Dass Menschen rein moralisch antworten und sich angesprochen und verletzt fühlen, zeigt, dass das Mittel und auch seine Bezeichnung nicht richtig gewählt worden sind. Nennen wir doch die Sachen beim Namen. Witz und Klamauk kann man gut finden oder nicht und es ist dann auch kein politisches Statement. Ich finde das Liedchen nicht gut und mache das, ohne damit eine politische Position zu beziehen. Auch diese Möglichkeit der Meinungsfreiheit ist Gegenstand einer Debattenkultur.
Sollte der WDR aus diesem Grunde vor rechten Scharfmachern einknicken? Nein. Man muss die Rechten zurückweisen, denn ihre Argumentation läuft ins Leere. Die Forderungen, Menschen zu entlassen, sind absurd und falsch. Falsch ist auch die Selbstzensur.
Ist es aber »armselig« (wie Sie, Herr Stemmler, notieren), wenn Tom Buhrow sich aus dem Krankenhaus zu Wort meldet, wo sein betagter Vater liegt und der sich von dem Text beschwert fühlt? Ich denke, hier spielen möglicherweise Trauer und andere persönliche Fragen hinein, die wir nicht kennen und nicht bewerten sollten.
In jedem Fall ist es aber falsch, in vorauseilendem Gehorsam das Video zu löschen. Es ist auch falsch, Begriffe zu verwenden, die den Kern nicht treffen.
Ich wünsche mir eine Satire, die diejenigen benennt, die Doppelmoral praktizieren oder die unsere Umwelt zerstören. Wenn die Satire unbedingt kollektive Zuschreibungen vornimmt, dann aber nicht exklusiv.
Ich wünsche mir auch ein wenig Augenmaß in der Art der Debatte. Satire muss überhöhen, um gehört zu werden. Im vorliegenden Lied ist das gute Anliegen in guter Absicht leider misslungen. Das ist nun wiederum nicht tragisch (um mal ein anderes Wort aus der Literaturwissenschaft zu adaptieren), sondern passiert. Der Umgang damit sollte aber reflektierter erfolgen. »Es war ein Witz, und ein Witz muss nicht allen gefallen«, hätte eventuell gereicht. Mehr muss gar nicht gesagt werden, denn der ganze Vorfall ist tatsächlich angesichts des Sterbens auf dem Mittelmeer und vieler anderer Krisen bestenfalls eine Randglosse wert.
Nun in Beißreflexe zu verfallen und ein harmloses Liedchen zu instrumentalisieren, ist unangemessen.
Denn dieses Instrumentalisieren regt mich auf: Die Rechten, die wieder eine »antivölkische« Verschwörung der Medien wittern, die nur spalten wollten, instrumentalisieren den Vorfall für ihre Zwecke. Aber auch Linke, die jede Kritik an dem Witzliedchen politisch verorten wollen, laufen hier in die Falle. Sie tun dies auch, wenn sie den politischen Gegnern Ahnungslosigkeit und Unkenntnis unterstellen. Es ist kein vernünftiges Mittel einer Auseinandersetzung, dem politisch Andersdenkenden intellektuelle Defizite zu attestieren.
Möglicherweise läuft auch meine Argumentation ins Leere. Vielleicht ist Satire etwas anderes, als ich hier behaupte, und verläuft grundsätzlich in anderen Bahnen. Dann lassen Sie uns darüber streiten. Ich bin auf Ihre Sichtweise gespannt.
Jens Borchert
Veröffentlicht in der jungen Welt am 03.01.2020.
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