Leserbrief zum Artikel Arbeiterbewegung in Italien: Die Wut der Massenarbeiter
vom 14.12.2019:
Ursachen des Paternalismus
Zu der erwähnten Herausbildung des paternalistischen Systems wäre als eine entscheidende soziale Ursache die mit dem Machtantritt des Faschismus 1922 unterbrochene Herausbildung einer Schicht der Arbeiteraristokratie zu betonen. Die stärksten Konzerne hatten ihre Kriegsgewinne in modernste Industrieanlagen investiert, die die geschilderte hoch intensive Ausbeutung der Arbeitskraft mit den angepassten Methoden ermöglichten. Einen Teil der erreichten Höchstprofite nutzten führende Unternehmen wie FIAT, Olivetti, aber auch staatliche Gesellschaften wie ENI und IRI, um einen Teil der Arbeiter zu korrumpieren. Es entstand der angeführte sogenannte Paternalismus, das Leitbild der Ergebenheit und Treue des Arbeiters zum Unternehmen, die entsprechend belohnt wurden. Mit Zuschlägen für treue Dienstjahre, überdurchschnittlich hohe Arbeitsleistungen und lückenlose Anwesenheit (was hieß, nicht an Streiks teilzunehmen), der Vergabe von unter der üblichen Miete liegenden Werkswohnungen, Betriebskindergärten und billigem Kantinenessen, lange Zeit teilweise kostenlos. In den Verhandlungen über höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zeigten sich die Unternehmer nachgiebig. Das führte auch dazu, dass die von den Reformisten ausgegebenen Theorien von der möglichen Kontrolle der Unternehmer Auftrieb erhielten (siehe Aufgabe von bis dahin revolutionären Positionen der Sozialistischen Partei Nennis bei Eintritt in die DC-Regierung 1963 und den in der PCI unter Berlinguer einsetzenden Kurs auf einen »Historischen Kompromiss« mit der DC). Die Kampfbereitschaft der Arbeiter ging zeitweilig spürbar zurück. Die Zahl der Streikstunden sank von 44,9 Millionen in den Jahren 1953–1955 auf 34,5 Millionen 1956–1958. Bei FIAT gab es bis 1962 überhaupt keine Streiks.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 16.12.2019.