Leserbrief zum Artikel September 1939: Der Wellenbrecher
vom 23.09.2019:
Phantasien und Propagandalügen
Kommentar jW:
Auf diese Zuschrift antwortete Reinhard Lauterbach:
Sehr geehrter Herr Thomalla,
vielen Dank für Ihren Leserbrief. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, worauf Sie hinauswollen. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass Roger Moorhouse die polnische Sichtweise auf den Septemberkrieg darstellt – sie mag sein, wie sie ist, von Illusionen gekennzeichnet oder nicht, aber sie ist in Deutschland wenig bekannt und war deshalb eine Darstellung wert.
Meine Aussage, Großbritannien habe gewusst, dass es seinen Zusagen nicht würde nachkommen können, stützt sich auf eine in der polnischen Ausgabe des Buches auf Seite 152 zitierte Äußerung Chamberlains gegenüber dem US-Botschafter in London vom 23. August: »Es ist erschütternd, wie vergeblich dies alles ist – wir werden letztlich nicht in der Lage sein, die Polen zu retten.« Die Quelle ist die offizielle amerikanische Edition »Foreign Relations of the United States« Bd. 1, Washington 1956, Dok. 350, Telegramm des Botschafters in London an den Außenminister 760C.62/942.
Ich möchte auch Ihre Aufmerksamkeit auf die Formulierung in der Garantieerklärung richten, Großbritannien werde »alles in seiner Macht Stehende« tun. Das ist eine sehr interpretationsfähige Aussage. Und wie Sie richtig sagen: mit einer de facto nicht existierenden Landstreitkraft und einer Marine, die für die Unterstützung Polens keine nennenswerte Rolle spielen konnte (die südliche Ostseeküste war damals mit Ausnahme des polnischen Korridors deutsch), stand es eben faktisch »nicht in der Macht« der Briten, etwas zu tun. Auch wenn die Polen mehr erhofften. Mein Argument ist, dass die Briten sehr genau wussten, was »in ihrer Macht steht«, und Polen trotzdem Garantien gaben, die in der Praxis für ihre Bedürfnisse wenig wert waren. Im Kapitel 5 des Buches (polnische Ausgabe, S. 210 ff.) führt Moorhouse zahlreiche Zitate britischer und französischer Militärs in der Richtung an, dass ein schnelles Eingreifen von ihrer Seite nicht erwünscht war, um »unsere Kräfte für später zu schonen« u. dgl. m.
Im übrigen habe ich nur gefragt, ob angesichts des Desinteresses von London und Paris, mit der Sowjetunion in letzter Minute einen multilateralen Verteidigungspakt zu schließen – Sie kennen die Geschichten von der Delegation ohne Vollmachten, die nicht flog, sondern mit einem alten Dampfer nach Leningrad reiste – und des offenen polnischen Widerstands dagegen, sowjetischen Truppen ein Durchmarschrecht zu gewähren, um eventuell die Deutschen auf polnischem Boden zu schlagen, die sowjetische Wahrnehmung weit von der Realität entfernt war, dass hinter all diesem Zögern die Absicht von Briten und Franzosen gestanden habe, die Energie der deutschen Aggression nach Osten abzulenken. Meiner Ansicht nach konnte das in der Atmosphäre des Augusts 1939 der sowjetischen Führung tatsächlich so scheinen. Dass sie im übrigen ihre eigenen Absichten verfolgte und gern die Gelegenheit ergriff, bei der Gelegenheit den für die Sowjetunion nachteiligen Frieden von Riga mit einem gegenüber der UdSSR zeitlebens feindselig eingestellten Polen zu revidieren, steht auf einem anderen Blatt und fiel bei mir einem ebenfalls gegebenen Zeichenlimit zum Opfer.
Mit freundlichen Grüßen
Reinhard Lauterbach