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Leserbrief zum Artikel September 1939: Der Wellenbrecher vom 23.09.2019:

Phantasien und Propagandalügen

Es ist schon erstaunlich, dass Reinhard Lauterbach in seiner Buchbesprechung vom 23. September (»Der Wellenbrecher«) – allen Tatsachen entgegen – polnische Phantasien und stalinistische Lügen verbreitet. Etwa wenn er Großbritannien vorwirft, gegenüber Polen Verpflichtungen eingegangen zu sein, »von denen es wusste, dass es ihnen nicht würde nachkommen können«. Die Garantieerklärung Großbritanniens für Polen vom 31. März 1939 und das ergänzende Kommunique vom 6. April 1939 bezogen sich und beinhalteten nur Garantien für die Souveränität, Selbständigkeit und territoriale Integrität Polens, der Beistandspakt vom 25. August 1939 beinhaltete in Fall einer Aggression gegen Polen zudem »alle in ihrer Macht stehende Unterstützung und Hilfestellung« gegen diese Aggression. Es gab von Großbritanniens Seite keine konkreteren Zusagen. Mit Kriegsbeginn und der britischen Kriegserklärung (ganz im Sinne des Beistandspaktes) an Deutschland begannen die Seeblockade und der Seekrieg (U-Boot-Krieg) seitens Großbritanniens. Das britische Landheer musste erst nach Frankreich gebracht werden. Es wurde überhaupt erst im ersten Halbjahr 1939 aufgebaut – vorher hatte GB nur eine Territorialverteidigung und neben der gigantischen Marine kleine Expeditionskorps für seine außereuropäischen Kolonien und Kriege. Frankreich lediglich hatte schon im Mai Polen konkrete Offensivaktionen gegen Deutschland 15 Tage nach Beginn eines Angriffs auf Polen zugesagt – großspurig und sich völlig überschätzend. Aber Letzteres traf ebenso auf Polen wie etwas später auf die Sowjetunion zu. Die Zusagen Frankreichs und die Pläne für einen Einsatz von GBs Landarmee hatten jedoch durch den Kriegsverlauf – sprich: die schnellen Erfolge der Wehrmacht und die Annexion der polnischen Ostgebiete durch die Rote Armee und die SU ab dem 17. September 1939 – ihren Wert völlig verloren. Beide Westmächte, GB und Frankreich, waren jedoch trotz der noch regierenden Bourgeoisie-Fraktionen der »Beschwichtigungs- bzw. Eindämmungspolitik« gegenüber Deutschland nicht bereit, auf Waffenstillstandsabkommen oder neue Zugeständnisse einzugehen. Sie hielten die Kriegserklärungen aufrecht, forderten die Rücknahme aller Annexionen des Deutschen Reiches und richteten sich auf einen langandauernden Krieg ein. Der tiefe Grund: GB und Frankreich hätten ein Deutschland vom Rhein bis an die damalige Westgrenze der UdSSR oder – noch schlimmer – ein Großdeutschland vom Rhein bis an die Wolga in ihrer Stellung als Welt- und Kolonialmächte bedroht. Darin waren sich die herrschenden Klassen dieser Staaten sehr einig. Es lohnt sich, diesbezüglich den Abschlussbericht von Ribbentrop (Anfang 1939) zu seiner Zeit als Botschafter in England zu studieren. Auch das von Churchill in seinen Memoiren dokumentierte Gespräch gleichen Themas mit Ribbentrop ist ganz eindeutig. Und der von der UdSSR nach dem Krieg veröffentlichte »Politische Bericht« des deutschen Botschafters Dirksen in London vom 10.7.1938 sowie dessen »Zusammenfassender Bericht« über seine Amtszeit (insbesondere der Teil IV März 1939–August 1939) sprechen Bände gegen die Stalinsche Propagandalüge, »dass die Energie der deutschen Aggression nach Osten abgeleitet werden sollte«. Die deutsche faschistische Führung hätte das gerne so gehabt, der Flug von Hitlers Stellvertreter Hess kurz vor dem Angriff der Wehrmacht auf die UdSSR war das bizarre Glanzlicht dieser Visionen. GB und Frankreich konnten das aber – so Dirksen an einer Stelle – aus eigenem Großmachtanspruch nicht hinnehmen und kampflos dabei zusehen.
Heribert Thomalla

Kommentar jW:

Auf diese Zuschrift antwortete Reinhard Lauterbach:

Sehr geehrter Herr Thomalla,

vielen Dank für Ihren Leserbrief. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, worauf Sie hinauswollen. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass Roger Moorhouse die polnische Sichtweise auf den Septemberkrieg darstellt – sie mag sein, wie sie ist, von Illusionen gekennzeichnet oder nicht, aber sie ist in Deutschland wenig bekannt und war deshalb eine Darstellung wert.
Meine Aussage, Großbritannien habe gewusst, dass es seinen Zusagen nicht würde nachkommen können, stützt sich auf eine in der polnischen Ausgabe des Buches auf Seite 152 zitierte Äußerung Chamberlains gegenüber dem US-Botschafter in London vom 23. August: »Es ist erschütternd, wie vergeblich dies alles ist – wir werden letztlich nicht in der Lage sein, die Polen zu retten.« Die Quelle ist die offizielle amerikanische Edition »Foreign Relations of the United States« Bd. 1, Washington 1956, Dok. 350, Telegramm des Botschafters in London an den Außenminister 760C.62/942.
Ich möchte auch Ihre Aufmerksamkeit auf die Formulierung in der Garantieerklärung richten, Großbritannien werde »alles in seiner Macht Stehende« tun. Das ist eine sehr interpretationsfähige Aussage. Und wie Sie richtig sagen: mit einer de facto nicht existierenden Landstreitkraft und einer Marine, die für die Unterstützung Polens keine nennenswerte Rolle spielen konnte (die südliche Ostseeküste war damals mit Ausnahme des polnischen Korridors deutsch), stand es eben faktisch »nicht in der Macht« der Briten, etwas zu tun. Auch wenn die Polen mehr erhofften. Mein Argument ist, dass die Briten sehr genau wussten, was »in ihrer Macht steht«, und Polen trotzdem Garantien gaben, die in der Praxis für ihre Bedürfnisse wenig wert waren. Im Kapitel 5 des Buches (polnische Ausgabe, S. 210 ff.) führt Moorhouse zahlreiche Zitate britischer und französischer Militärs in der Richtung an, dass ein schnelles Eingreifen von ihrer Seite nicht erwünscht war, um »unsere Kräfte für später zu schonen« u. dgl. m.
Im übrigen habe ich nur gefragt, ob angesichts des Desinteresses von London und Paris, mit der Sowjetunion in letzter Minute einen multilateralen Verteidigungspakt zu schließen – Sie kennen die Geschichten von der Delegation ohne Vollmachten, die nicht flog, sondern mit einem alten Dampfer nach Leningrad reiste – und des offenen polnischen Widerstands dagegen, sowjetischen Truppen ein Durchmarschrecht zu gewähren, um eventuell die Deutschen auf polnischem Boden zu schlagen, die sowjetische Wahrnehmung weit von der Realität entfernt war, dass hinter all diesem Zögern die Absicht von Briten und Franzosen gestanden habe, die Energie der deutschen Aggression nach Osten abzulenken. Meiner Ansicht nach konnte das in der Atmosphäre des Augusts 1939 der sowjetischen Führung tatsächlich so scheinen. Dass sie im übrigen ihre eigenen Absichten verfolgte und gern die Gelegenheit ergriff, bei der Gelegenheit den für die Sowjetunion nachteiligen Frieden von Riga mit einem gegenüber der UdSSR zeitlebens feindselig eingestellten Polen zu revidieren, steht auf einem anderen Blatt und fiel bei mir einem ebenfalls gegebenen Zeichenlimit zum Opfer.

Mit freundlichen Grüßen

Reinhard Lauterbach

Veröffentlicht in der jungen Welt am 27.09.2019.