Leserbrief zum Artikel Literaturgeschichte: Wort und Tat
vom 16.09.2019:
Gekrönte Dirne
Vielen Dank für den Themenseitenartikel von Jürgen Pelzer, der sich mit Adornos Kampf gegen politische Kunst beschäftigt. »Die wahre engagierte Literatur besteht für Adorno nur im radikalen Formexperiment«, schreibt Pelzer so treffend. Adorno meint wahrscheinlich die Ware Kunst, die sich unpolitisch viel besser verkauft, und das im doppelten Sinn: erstens an die herrschende Klasse, zweitens im Laden und auf den Bühnen. Pelzer hält diesem offensichtlichen Opportunismus den Standpunkt Bertolt Brechts entgegen. Auf dem IV. Schriftstellerkongress 1956 empfahl Brecht die Notwendigkeit einer kämpferischen und engagierten Theaterpraxis, die u. a. Agitprop und kleine Form einschließt und nicht, wie so häufig, denunziert. Diese Forderung Brechts hat ihre Gültigkeit nicht verloren. Wer nämlich heute politisch engagierte Kunst macht, wird sowohl von bürgerlichem Feuilleton und oft auch von »linken« Kulturseiten entweder ignoriert oder denunziert. Denn auch die Linken schielen allzu oft nur auf Berühmtheiten und Namen. Dazu Balzac: »Das Ansehen, dem alle so eifrig nachahmen, ist fast immer eine gekrönte Dirne.«
Veröffentlicht in der jungen Welt am 18.09.2019.